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Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht

Titel: Ich bin die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ethan Coss
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erste ihrer Kinder hatte nur noch eine Chance von eins zu vier. Das zweite von eins zu drei …
    Sicher, sie konnte die Waffe noch einmal auf Ackerman richten, aber was, wenn er den Revolver wieder nicht geladen hatte? Das bedeutete einen grausamen Tod für sie alle.
    In ihrem Kopf tobte ein Hurrikan aus Fragen, auf die sie keine Antwort hatte, ein Mahlstrom der Verwirrung, der mit solcher Gewalt umherwirbelte, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
    »Entschuldigen Sie, Alice«, sagte Ackerman, als würde er sie am Frühstückstisch bitten, ihm das Salz zu reichen. »Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, unser kleines Spiel nicht zu genießen oder zu beobachten, wie Sie versuchen, Ordnung ins Chaos zu bringen, aber könnten Sie ein bisschen schneller machen? Ich habe heute Nacht noch andere Pläne.« Im gleichen nonchalanten Tonfall fügte er hinzu: »Und wenn Sie sich nicht beeilen, tue ich vielleicht etwas, das Sie bereuen.«
    Sie ließ die Waffe fallen und brach in Tränen aus.
    »Hör auf zu flennen, Miststück!« Ackerman knallte die Faust auf den Tisch.
    Alice sah, wie seine Wut anschwoll. In seinen Augen schien das Feuer der Hölle zu lodern.
    »Sie nehmen sofort den Revolver und spielen. Oder wollen Sie die wahre Bedeutung des Wörtchens ›Leid‹ erfahren, Alice? Wenn Sie die Waffe nicht wieder aufheben, mache ich Sie damit vertraut. Los jetzt!«
    Aus schierer Angst gehorchte sie.
    »Gut. Nun werde ich Ihnen die nächste Entscheidung abnehmen. Ihr Sohn ist dran. Richten Sie den Revolver auf ihn und drücken Sie ab.«
    Alice zielte auf ihren Sohn.
    Legte den Finger an den Abzug.
    Sie bemühte sich, die entsetzlichen Empfindungen abzublocken, die auf sie einstürmten und ihr die Fähigkeit raubten, zusammenhängend zu denken. Erneut versuchte sie, die Situation nüchtern zu betrachten und sich klarzumachen, dass die einzige Hoffnung, wenigstens einem von ihnen das Leben zu retten, darin bestand, dass sie Ackerman gehorchte. Doch wie bei fast jeder schwierigen Entscheidung gab es keine eindeutige Antwort.
    »Drücken Sie ab. Tod ist keine Hinrichtung. Er ist Begnadigung. Mord ist ein Gnadenakt. Die Amnestie, die jemandem die Bürde eines Lebens in Schmerz und Jammer erspart. Die Welt ist Chaos. Leben ist Schmerz. Erlösen Sie Ihren Sohn, Alice. Drücken Sie ab.«
    Nein. Sie würde es nicht tun. Sie konnte es nicht.
    O Gott, hilf mir, schrie es in ihr.
    Doch es gab nur eine Möglichkeit, ihrer schrecklichen Situation zu entrinnen. Der Teufel, der in ihre Welt eingedrungen war, forderte ein Blutopfer und ließ sich erst beschwichtigen, wenn er es bekam.
    Also opfere ich mich selbst, überlegte Alice.
    Ihre einzige Hoffnung war, dass ihr Tod nicht vergebens wäre und dass sie auf diese Weise ihre Kinder retten könnte.
    Sie richtete den Revolver auf ihre Schläfe und zog den Abzug durch.

30.
    Klick. Beim ersten Mal löste sich wieder kein Schuss.
    Alice zögerte, ehe sie noch einmal durchzog. Sie wollte nicht sterben, zumal sie in dem Glauben erzogen worden war, dass Selbstmord eine Reise ins Höllenfeuer ohne Rückfahrkarte bedeutete. Sie zögerte noch eine Sekunde, dann zog sie rasch hintereinander den Abzug durch.
    Klick. Klick. Klick.
    Nichts.
    Sie hielt inne, drückte wieder ab.
    Klick. Klick. Klick.
    Sie lebte noch immer.
    Der Revolver war wieder nicht geladen.
    Alice ließ die nutzlose Waffe auf den Boden fallen und richtete den Blick auf Ackermans Gesicht. Sein Augen waren kalt, Gefühle waren ihnen nicht zu entnehmen. Alice entdeckte keine Anzeichen der irrsinnigen, heißen Wut mehr, die sie zuvor in seinem Gesicht hatte brennen sehen. Stattdessen blickte sie nun in die schwarzen, toten Augen eines Hais.
    Und dann ging eine schier unglaubliche Veränderung mit ihm vor.
    Mit einem Mal verschwand die Finsternis aus seinem Gesicht, und er lächelte sie freundlich, beinahe liebevoll an. Es war, als säße ihr ein anderer Mann gegenüber.
    Francis Ackerman hatte sich verwandelt.
    Diese Verwandlung hätte Alice ein klein wenig Hoffnung geben können, doch sie erlaubte sich nicht die geringste Zuversicht. Sie hatte gesehen, was unter der Oberfläche dieses ruhigen Gewässers brodelte.
    Wahrscheinlich war es nur das Auge des Sturms. Wahrscheinlich würde er sich gleich wieder in die mörderische Bestie verwandeln, die er war.
    Alice gab sich keinen Illusionen hin.
    Umso fassungsloser war sie, als er zu reden begann.
    »Sie erinnern mich an meine Mutter, Alice«, sagte Ackerman mit sanfter Stimme.

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