Ich bin die Nacht
»Jemand hat mal gesagt, Mutterliebe ist das Feuer, das einen normalen Menschen zum Unmöglichen befähigt. Sie ist Frieden. Sie braucht weder erworben, noch verdient zu werden. Sie ist etwas sehr Mächtiges. Ich kenne keine andere Bindung, die so stark ist.« Er lächelte sie wehmütig an. »Manchmal frage ich mich, welches Leben ich gehabt hätte, wäre meine Mutter nicht gestorben, als ich noch klein war. Ich habe kaum eine Erinnerung an sie. Sie starb zusammen mit meinem ungeborenen kleinen Bruder an einer Komplikation während der Schwangerschaft. Ich erinnere mich nicht einmal an ihre Beerdigung, oder dass ich ihr Grab besucht hätte. Aber ich erinnere mich an ihre Liebe.«
Er atmete tief ein, ehe er in die Ferne blickte. »Manchmal glaube ich, dass mein ganzes Leben nur ein langer Albtraum gewesen ist, und dass meine Mutter mich jeden Moment aufweckt und mir sagt, ich hätte nur schlecht geträumt.«
Ackerman stand vom Tisch auf. Alice bemerkte, dass ihm Tränen in den Augen standen. »Achten Sie gut auf Ihre Kinder, Alice«, sagte er leise. »Halten Sie sie niemals für selbstverständlich. Bringen Sie sie wieder zu Bett, und wenn Sie morgen früh aufwachen, dann überzeugen Sie die beiden und sich selbst, dass Sie nur schlecht geträumt haben.«
Er drehte sich um und ging zur Tür.
Alice war noch immer schockiert von seiner Verwandlung. Spielte er nur mit ihnen? Oder meinte er es ernst? Ohne groß nachzudenken, sagte sie: »Ich habe Ihnen ja gesagt, es gibt einen Gott.«
Ackerman blieb wie angewurzelt stehen.
Idiotin!, schoss es Alice durch den Kopf. Jetzt hatte sie alles kaputt gemacht. Jetzt würde er sich wieder in einen gnadenlosen Killer verwandeln.
Doch als Ackerman sich umdrehte, entdeckte sie kein Anzeichen von Feindseligkeit in seinem Gesicht. Er blickte einen Moment lang zu Boden, schaute sie dann an und sagte leise: »Ich hoffe, Sie irren sich … um meinetwillen.«
»Es ist nie zu spät«, erwiderte sie.
»Was meinen Sie damit?«
»Sich zu ändern. Einen anderen Weg zu gehen.«
Er lächelte. »Ich habe einen Freund, der mir ständig das Gleiche sagt. Die Zeit wird es erweisen, nehme ich an.« Er sah ihr tief in die Augen. »Gute Nacht, Alice.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand so leise aus dem Haus, wie er eingedrungen war.
Alice konnte es nicht fassen. Sie band ihre Kinder los und drückte sie fest an sich. In diesem Moment schwor sie, ihr Leben nie wieder für selbstverständlich zu halten. Jeder Tag war ein Segen, jeder Augenblick ein Geschenk.
Und dennoch …
Sie traute dem Frieden nicht. War eine solche Verwandlung möglich? Oder war das nur ein Trick dieses Verrückten, um sie in Sicherheit zu wiegen, und dann erneut über sie und die Kinder herzufallen?
Dieser Irre hatte ihren Mann auf bestialische Weise ermordet. Er hatte perverse Spielchen mit ihr und den Kindern getrieben.
Konnte sie den Worten eines solchen Ungeheuers trauen?
Wohl kaum.
31.
Loren kam zu Marcus ins Zimmer. Er behielt vom Fenster aus noch immer den Sheriff und dessen Leute im Auge.
»Wir haben alles zusammengesucht, wonach Sie gefragt haben«, sagte sie. »Was haben Sie damit vor?«
»Wir gehen in die Offensive«, antwortete Marcus. »Wir lenken sie lange genug ab, dass wir zum Wagen hinter dem Haus kommen.«
»Und wenn dort jemand postiert ist?«, fragte Loren.
»Darum müssen wir uns kümmern, wenn es so weit ist.«
Loren wies auf die Gegenstände, die sie Marcus gebracht hatte. »Und was genau machen wir mit diesen Sachen?«
»Ein Ablenkungsmanöver. Vertrauen Sie mir.«
Sie wirkte nicht überzeugt. »Aber was sollen wir tun, selbst wenn wir es bis zum Wagen schaffen? Wir werden sie dicht auf den Fersen haben. Sie können über Funk Straßensperren errichten lassen und Helikopter anfordern. Und wer weiß, wer alles an dieser Verschwörung beteiligt ist. Wir wissen doch gar nicht, wem wir trauen können oder wo wir in Sicherheit sind. Was nutzt es uns, den Wagen zu erreichen?«
Er merkte, wie ihre Beklommenheit wuchs, und spürte ihre Angst – nicht nur um sich selbst, auch um das Leben ihrer Kinder. Mit einem Mal wirkte sie wieder wie eine Frau, die nicht mehr aus noch ein wusste.
»Sie dürfen nicht den Mut verlieren, Loren«, sagte er. »Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen. Wenn wir hierbleiben, sterben wir alle. Deshalb müssen wir zu Charlies Wagen und zusehen, dass wir von hier wegkommen. Wenn wir erst auf der Straße sind, habe ich noch ein paar
Weitere Kostenlose Bücher