Ich bin ein Mörder
recht. Wozu sollte sie noch kämpfen? Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Mischa rührte sich nicht. Lag ebenso stumm und regungslos wie Jörg in seinem eigenen Blut. Alles, was zählte, war verloren. Sie drehte sich zu Tobias um, der wieder ihr Handgelenk umschlossen hielt.
»Kommst du mit rauf? Von hier oben hast du einen besseren Blick. Du kannst mich fallen sehen und aufschlagen. Du kannst …«, sie schluckte, »von hier aus kannst du die beiden sehen.« Ihre Stimme kippte. »Gut versteckt die Rettungskräfte beobachten, in ihrem vergeblichen Bemühen …«
Sie brach ab und blinzelte nach unten, hielt den Atem an, befeuchtete zitternd ihre Lippen. Tobias durfte nichts ahnen.
»Endlich verstehst du! Ist es nicht erhebend, den Überblick zu haben?«
Sie nickte wortlos. Er kletterte neben sie auf die Brüstung, das Rankgitter fest im Griff. Fürchtete er, sie könne ihn mit sich in die Tiefe ziehen? Die Gefahr war gering, auf der Seite des gebrochenen, nutzlos herabbaumelnden Armes. Noch immer stand er hinter den Pflanzen. Vor den Blicken der Außenwelt verborgen. Aber sie versperrten auch seine Sicht. Alexandra machte einen weiteren kleinen Schritt zur Seite und er folgte ihr.
Seine unbedachte Bewegung machte ihn sichtbar. Ein kleines Stück, ein kleiner Augenblick.
»Schieß!«, schrie Alexandra mit sich überschlagender Stimme und ließ sich zur gleichen Zeit rückwärtsfallen. Sie sah, wie Tobias auf der Brüstung schwankte, als der Schuss ihn traf. Seine Hand umklammerte das Gitter, hielt ihn oben. Der zweite Schuss erwischte ihn geschwächt, aber vorbereitet. Seine tänzelnden Schritte balancierten ihn aus. Die Choreographie des Todes. Langsam drehte er sich zu ihr um. Sein Pullover färbte sich rot. Mit geweiteten Augen starrte er sie an. Dann lächelte er.
»Ich spüre das Leben. Das Leben! Verdammt sollst du sein, Alexandra. Gott ist tot.«
»Fahr zur Hölle!«, schluchzte sie.
Dann öffnete er die Hand und kippte nach hinten.
* * *
Conrad Neumaier drehte den Kopf, noch bevor der Körper mit dumpfem Aufprall die Erde erreichte. Begleitet von einem scharfen Krachen. Die Wirbelsäule, schloss er lakonisch. Neben ihm lagen zwei Männer regungslos im feuchten Spielplatzsand. Zwei gute Männer. Ein dritter Mann lag jetzt im Blumenbeet, wie er wusste, aber nicht sehen wollte. Er senkte die Hand mit der Waffe, schob sie zurück ins Holster. Last man standing. Wieso er. Wieso ausgerechnet er? Wieso stand er aufrecht und sie lagen im Dreck? Melodisch klingelte das Handy in seiner Brusttasche. Automatisch ging er ran, als er Robert Wagners Nummer erkannte.
»Jetzt nicht. Hör zu«, raunzte er kurzatmig. Dann forderte er einen weiteren Notarzt, Verstärkung, ein Team der Spurensicherung und einen Leichenwagen, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Erst als der Rettungswagen ihm fast über die Füße fuhr, wich die verzweifelte Starre aus seinem Körper. Er hatte nicht mal versucht, Erste Hilfe zu leisten – und er hatte sich nicht um Alexandra gekümmert. Hastig drehte er sich um und schaute hinauf zum Balkon.
»Alexandra«, brüllte er. »Alexandra!«
* * *
Ihr Hinterkopf war hart gegen die Hauswand geschlagen. Benommen blieb sie liegen. Minuten verstrichen. Alexandra rührte sich nicht. Das Martinshorn kam endlich näher. Türen schlugen, Stimmen redeten durcheinander. Jemand rief ihren Namen. Immer lautere Stimmen. Immer mehr Stimmen. Polizeisirenen, noch ein Martinshorn. Da war wieder ihr Name. Neben dem Arm, der nicht mehr zu ihr gehören wollte, lag die Waffe. Das kannst du auch mit links, Alexandra. Eine Kleinigkeit. Aufheben mit links, Mund auf, abdrücken mit links. Aus. Feierabend. Kein Blut mehr. Keine Toten. Keine Verantwortung. Kein Prozess. Durch die Lücken im Balkongeländer sah sie schemenhaft Gestalten huschen. Von links nach rechts, von rechts nach links. Ein seltsamer Tanz. Langweilige Choreographie. Seine Choreographie. Sie tanzten immer noch nach seiner Pfeife. Nimm die Waffe, Alexandra. Letzter Akt. Ausgetanzt. Die Hand tastete über den Boden. Da war wieder ihr Name, schaukelte durch die Luft. Ihr Finger berührte das Metall. Das grelle Jaulen des Martinshorns stach in ihre Ohren, als es wieder einsetzte und sich schnell entfernte.
Die Welt hing schief, ihr Denkvermögen schlingerte, wie ein leckgeschlagener Kahn im Sturm. Zerrspiegelbilder schwappten in ihr Bewusstsein, als sie aufstand, durch ihre Wohnung ging und die Treppe hinab ins Freie stolperte.
Weitere Kostenlose Bücher