Ich bin ein Mörder
wirkliches Erfolgserlebnis sah anders aus.
Was hatte Tobias gesagt? Diese Stadt ist verdorben. Aber es waren die Menschen, die einander ins Verderben trieben. Einen Moment lang überlegte sie, ob jemand einen der kleinen Gauner angeheuert haben konnte, um an Tobias’ Pullover zu kommen. Doch dann verwarf sie den Gedanken als absurd. Ein Fünf-Sterne-Hotel zu betreten, war riskant und bot für die Kinder nur geringe Erfolgsaussichten. Wahrscheinlich wären sie schon am Eingang gescheitert. Und ein Gelegenheitsdieb hätte sich vermutlich eher einen Aktenkoffer geschnappt als einen alten Rucksack. Wer auch immer das getan hatte, musste aus eigenem Antrieb gehandelt haben und mit der festen Absicht, den Pullover dazu zu verwenden, Tobias einen Mord anzuhängen. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Alexandra kaute auf ihrer Lippe und scannte die Straße mit den Augen. Wo eine Kinderbande aktiv war, gab es meistens noch mindestens eine weitere. Sie arbeiteten immer nach demselben Schema und wurden von erwachsenen Aufpassern streng überwacht. Nur gingen die praktisch nie ins Netz. Das Ende war immer das Gleiche: Man übergab die Kinder an eine Fürsorgeeinrichtung. Doch weil die kleinen Räuber nach geltendem Recht nicht gegen ihren Willen festgehalten werden konnten, verschwanden sie nach der ersten warmen Mahlzeit oder einer Nacht im bequemen Bett und niemand konnte sie aufhalten. Das war es dann. Ein Haufen Schreibkram und wenig Effekt. Sie hatte das Thema in der Vergangenheit unzählige Male mit Mischa durchdiskutiert. Wegsperren führte im Zweifel nur dazu, dass die kriminellen Fertigkeiten verfeinert wurden. Danach fanden Jugendliche nur schwer zurück in ein normales Leben. Normal. Sie schnaubte schlecht gelaunt. Was ist schon normal? Allein die Definition war mehr als problematisch.
Nach dem Streit am Morgen hatte Mischa kaum mit ihr gesprochen. Nur dienstlich. Auch das war nicht normal.
Jetzt saßen sie im Streifenwagen nebeneinander und sie fragte sich, wie lange das so weitergehen sollte. Sein Schweigen verursachte ein unangenehmes Gefühl, irgendwo zwischen Wut und Traurigkeit. Mit einem Hauch von Schuld. Und der war gerechtfertigt, wie sie sich zähneknirschend eingestand. Die Ergebnisse von Jörgs Nachforschungen ließen sich nur schwer ignorieren. Genau wie die Tatsache, dass sie ihn selbst darum gebeten hatte. Tobias konnte durchaus gefährlich sein. Doch sie wollte das, verdammt noch mal, ganz alleine herausfinden! Und sie wollte sich garantiert nicht von Mischa belehren lassen. Trotzdem. Etwas fehlte ihr, wenn er schwieg. Da blieb nur eins: die Missstimmung aus der Welt zu schaffen. Sofort. Sie drehte sich zu ihm um und stutzte. Mischa summte.
In halb liegender Position hing er auf dem Beifahrersitz. Die einzig erträgliche Haltung, wenn man längere Zeit im Auto verbrachte, wegen der vielen Ausrüstungsteile, die am hinteren Teil des Gürtels befestigt wurden. Das war nicht ungewöhnlich. Aber dass er summte, war neu.
Die Melodie plätscherte sanft wie Wasser, rieselte, tröpfelte irgendwo im Hintergrund durch ihre Erinnerung. Mischas Finger klopften den Rhythmus auf dem festen Kevlar-Gewebe der Schutzweste über seinem Bauch. Er wirkte völlig entspannt. Machte ihm das Schweigen gar nichts aus? Er schaute hinaus zu den Wolkenlöchern, durch die gelegentlich ein Fetzen blauen Himmels zu sehen war. Alexandra beobachtete ihn überrascht, folgte seinem Blick, sagte aber nichts. Obwohl sie zu gern gewusst hätte, woran er gerade dachte. Sie kannte den Song. Zuletzt hatte sie ihn auf der Vernissage gehört. Gespielt von einem Saxophon. Nur der Titel wollte ihr nicht einfallen.
* * *
Irene Neumaier stand in der Wohnzimmertür und betrachtete ihren Mann, der reglos aus dem Fenster starrte.
»Was ist los mit dir, Conrad?«
Am Waldrand bogen sich die Bäume im Wind, wie Scherenschnitte vor dem grauen Himmel. Das schwindende Licht des Tages verschmolz die Konturen im Garten zu einer einheitlichen Fläche. Geräteschuppen, Rhododendron, Feuerdorn. Das Zimmer lag im Dunkeln und Conrad antwortete erst, als Irene näher kam. Die Lampe ließ sie ausgeschaltet.
»Nichts.« In seiner Jacke steckte eine Postkarte.
»Das ist nicht wahr.« Irene Neumaier trat hinter den Sessel, legte die Arme um seine Schultern und das Kinn auf seinen Kopf. »Wir kennen uns zu lange, als dass du mir was vormachen könntest. Du stehst extrem unter Druck und ich wüsste gerne, wieso. Es ist nicht nur deine Arbeit.«
Er
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