Ich bin ein Mörder
eine Haarsträhne aus ihrem Zopf, wickelte sie um den Finger.
»Kommt nicht auch für die Engel der Tag des Jüngsten Gerichts?«
»Theoretisch. Doch wieso sollten sie sich dem beugen? Verstoßene Engel können das irdische Exil dazu nutzen, Kräfte zu sammeln, das Böse zu kultivieren, zu potenzieren, um den finalen Kampf zu bestehen und zu siegen. Gesammelt hinter dem Einen, dem Ur-Revolutionär.«
»Du meinst den Satan? Denkst du an ihn, wenn du mich deinen Engel nennst? Das gefällt mir nicht!«
»Ich spreche von dem Erzengel, den man zu Unrecht ›gefallen‹ nennt. Er wurde gestürzt, bestraft, verstoßen.«
Seine zornige Stimme vibrierte in ihrem Kopf, der wieder an seinem Herzen lag.
»Stell ihn dir vor: Luzifer, der strahlende, schöne Sohn der Morgenröte. Der Lichtbringer. Und im Schein dieses Lichtes erkannte er: Im Himmel herrscht ein Despot! Diktatur. Sein Wissen und sein Einfluss wurden gefährlich. Seine Schönheit und Perfektion bedrohten das herrschende Machtgefüge.«
Seine Stimme wurde lauter, der Atem ging stoßweise. Sein Thema, seine Leidenschaft. Gut und Böse. Die Grenzen verschwammen. Sachte strich Alexandras Zeigefinger von seiner Schulter über das Schlüsselbein, in gerader Line abwärts zum Solarplexus. Eine völlig unbehaarte, erstaunlich schmale Brust. Fast schon mager der ganze Körper, mit hervorstehenden Hüftknochen. Die Haut war sehr weiß, beinahe durchscheinend, wie Pergament, durchzogen von bläulich schimmernden Adern. Dieser dominante Mann wirkte plötzlich ungewohnt hilflos. Dünnhäutig. Verletzlich. Sicher wollte er nicht, dass sie ihn so sah. Und sie wollte nicht riskieren, ihn durch ihre Erkenntnis zu verlieren.
»Ein überirdisches Wesen. Unbeugsam. Unnahbar. So wie du. Spielst du die Rolle, um mich zu erschrecken?« Ihr Finger zog die Spur weiter bis zu seiner Leiste. »Kommt das Böse wirklich in der Gestalt des schönen Versuchers? Sag mir, bist du der Lichtbringer, der mich in die Finsternis führen will?«
Sie versuchte, ihn zu necken, doch seine Antwort klang düster, wie aus weiter Ferne.
»Und der Herr sprach: Es werde Licht! Aber ich bin es, der die Fackel weiterträgt. Lass mich deinen Geist erleuchten. Mit meiner brennenden Fackel in dich eindringen.«
Ihre Anspannung wurde unerträglich.
»In mich eindringen? Wenn es schon brennt, sollten wir das lieber verschieben und eine Pause einlegen.« Unsicher versuchte sie, die Verwirrung mit einem Scherz zu vertreiben.
»Was?«
Ihre Hand ruhte auf seiner Hüfte und ihre Zungenspitze berührte seine Schulter.
»Wenn es brennt, sollte man eine Pause einlegen.«
Das verklärte Funkeln verschwand aus seinen Augen.
»Du kleines Ferkel!«
Erleichtert stimmte sie in sein Lachen ein, tief und kehlig, das ihre Knie zum Zittern brachte. Er packte ungestüm ihr Kinn, küsste sie, biss in ihre Lippe und wälzte sich dann über sie.
»Lass uns die Fackel löschen, Alexandra. Vorübergehend. Und dann neu entzünden. Wieder und wieder und wieder …«
Dienstag, 30. Oktober
Walter Müller steckte sich eine Zigarette an und pustete den Rauch aus dem geöffneten Fenster. Mischa saß neben ihm auf der Eckbank in der Küche und schaute ihm dabei zu. Alexandras Mutter schätzte es nicht, wenn ihr Mann die Wohnung vernebelte. Aber im Augenblick war sie nicht da und Walter nutzte die Gelegenheit, nicht auf den Balkon gehen zu müssen, sondern mit dem Hintern auf der warmen Heizung sitzen zu bleiben. Auch wenn die Rippen des alten Heizkörpers unterm Fenster denkbar unbequem waren. Das war eine Frage des Prinzips. Mischa war bestens im Bilde. Ein klassischer Polizistenhaushalt, mit klar verteilten Rollen. Wer in der Familie den höheren Dienstgrad bekleidete, war eindeutig. Für einen Moment musste er grinsen. Aber bei der Frage, die er gerade gestellt hatte, war ihm nicht wirklich zum Lachen. Unter Walters Fittichen hatte Conrad Neumaier seine Karriere in Frankfurt begonnen. Was lag also näher, als sein Wissen um die Vergangenheit zu nutzen?
»Klar kann ich mich erinnern«, antwortete Walter jetzt. »Der Brückenmord. Ein riesiger Presserummel. War eine komische Sache damals. Ich war an den Ermittlungen nicht direkt beteiligt. Bin ja nie bei der Kriminalpolizei gewesen, obwohl ich das immer spannend fand. Aber die Zusatzausbildung hat nicht zu mir gepasst, das viele Bücherlesen und -studieren. Bin halt ein Praktiker und darum ewig auf dem Revier geblieben. Tolle Sache. Feste verlässliche Strukturen,
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