Ich bin ein Mörder
endlich den Titel, sonst konnte sie sich nicht davon befreien. Dieses Lied gehörte zu Mischa. Es hatte nichts in ihrem Kopf zu suchen und ging ihr auf die Nerven. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, die Melodie zu summen.
»Schizophrenie im Endstadium«, murmelte sie, warf das Kleiderbündel auf den Rücksitz und stellte das Autoradio an. Sie versuchte, sich auf Naheliegendes zu konzentrieren. Der Scheibenwischer fegte trockene Blätter und letzte Regentropfen aus ihrem Blickfeld. Über den Himmel rasten dicke Wolkenberge in unterschiedlichen Höhen. Keine Aussicht auf ein kleines bisschen Sonne. Endlose Tage ohne Tobias lagen vor ihr. Sein Leserhythmus und ihr Dienstplan verhängten eine Zwangspause über ihre Beziehung. Schon wieder diese innere Schizophrenie. Ein Teil von ihr litt und der andere Teil fühlte dabei Erleichterung – nach dem vergangenen Abend.
Selbst beim Schießtraining hatte sie die Erinnerung nicht losgelassen. Auf der kleinen Schießanlage lieferte sie Ergebnisse ab, über die sich viele Kollegen gefreut hätten, aber für ihre Verhältnisse waren sie indiskutabel. Erst auf die Fünfundzwanzig-Meter-Distanz gelang es ihr, die nötige innere Ruhe zu finden. Sie traf sicher aus jeder erdenklichen Position: stehend, liegend, sitzend. Auch einhändig war die Quote beachtlich. Nur einen Schuss verzog sie noch, als sie daran dachte, wie Tobias ihre Sig in der Hand gehalten und selbst vom Schießen geschwärmt hatte. Plötzlich stand ihr das Bild eines apokalyptischen Reiters vor Augen, im Morgenrot, die Heckler & Koch im Anschlag.
Alexandra schüttelte sich. So ein Blödsinn. Zur Abwechslung erwartete sie eine Portion Realität im morgigen Tagdienst und anschließend ein unkompliziertes Treffen mit Jörg. Genau das war es, was sie gebrauchen konnte. Keine Rätsel. Keine Glaubensfragen, die sie sich selbst nicht beantworten konnte. Keine Gewissensentscheidungen. Tina Turner sang von Liebe und Alexandra schaltete das Radio ab. Sofort wurde das Summen in ihrem Kopf lauter. Sie seufzte wieder. Dann ergab sie sich und summte mit.
* * *
»Ich tötete ein Kind. Das war leicht. Es gibt so viele davon. Sie sind unvorsichtig. Ob es lustig war? Nicht lustiger als bei den anderen. Weshalb ich dann lache? Ich lache über Ihr Entsetzen, Kommissar. Wieso entsetzt es Sie, nach allem, was Sie von mir wissen, dass ich ein Kind getötet habe? Ist das etwa verwerflicher, als einen Erwachsenen zu ermorden? Aus welchem Grund? Alle sind immer so betroffen, wenn es um Kinder geht. Als wären sie mehr wert, besser, unantastbar. Sie sind es nicht.
Unschuldig? Nein. Arglos, ahnungslos vielleicht. Aber unschuldig? Wie kommen nur immer alle auf diese Idee? Niemand kann die Gedanken eines Kindes lesen. Wer weiß schon, was in den Köpfen vor sich geht. Wieso sollten seine Gedanken unschuldig sein? Weil der Mensch gut und ohne Schuld zur Welt kommt? Unsinn! Warum werden dann aus unschuldigen, liebenswerten, wundervollen Kindern bösartige Erwachsene? Die Umstände, ach ja. Was ist mit den Genen? Wenn es die Gene sind, warum wirken sie erst später, nicht von Anfang an? Wenn es die Gene sind, ist das Böse doch von Beginn an da. Und bedenken Sie – auch ich war ein Kind. Glauben Sie wirklich, dass ich ein nettes Kind gewesen bin? Eines zum Gernhaben? Lügen Sie sich nichts vor. Doch gut, Ihnen zuliebe spinne ich den Gedanken weiter. Ich war ein gutes Kind und erst die Umstände meines Lebens machten mich zu dem, was ich heute bin. Ein skrupelloser Mörder. Welche Umstände waren das? Wen kann ich – nein, Sie sind es ja, der das denken möchte – also, wen können Sie für meine Taten verantwortlich machen? Um mich reinzuwaschen von meiner Schuld, auf dass ich wieder schuldlos bin, wie jene ach so putzigen kleinen Wesen. Wollen Sie das wirklich? Wenn es das Gute gibt, muss es auch das Böse geben. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Die Bibel kommt nicht ohne den Antichristen aus. Menschen brauchen den Vergleich. Nur so erkennen sie, was gut und was böse ist. Also, wenn Sie an das Gute im Menschen glauben, müssen Sie zwangsläufig auch an das Böse im Menschen glauben. Gerade Sie, als Kommissar! Sehen Sie es denn nicht, Tag für Tag? Oh, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Ich, der große Bösewicht, muss im Umkehrschluss genauso an das Gute glauben. Aber nein, Sie Dummkopf! Der Bösewicht bin ich nur für Sie, weil Sie mich mit Ihrem Bild vom Guten vergleichen. Ich glaube nicht an Gut
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