Ich bin ein Mörder
und Böse, nicht an Gott und nicht an einen Sinn. Deshalb ist der Mord an einem Kind auch nicht unsinniger als jeder andere Mord. Wenn ich dieses Geheule höre! Das arme Ding, es hat doch niemandem etwas getan! Sicher? Fragen Sie den Käfer, den es achtlos zertreten hat, die Fliege, der es die Flügel ausriss, oder den Hamster, den es verhungern ließ. Unwissenheit schützt vor Bosheit nicht. Warum also um ein Kind mehr trauern als um einen Menschen, der in seinem Leben schon etwas geleistet hat? Vielleicht sogar Gutes getan? Die Menschen machen es sich zu einfach, wenn sie die Unschuld so verteilen. Und zugleich machen sie es sich unnötig schwer. Schuld und Unschuld sind irrelevant. Ein sinnloser Mord? Natürlich! Weil es keine sinnvollen Morde gibt. Kein einziger Mord macht auf Dauer Sinn, weil nichts in diesem erbärmlichen Leben einen Sinn hat. Nicht das Leben und nicht das Sterben irgendeines Menschen! Weil nichts von Dauer ist, außer vielleicht das Nichts als solches. Wir leben im Augenblick und der ist das Einzige, was zählt. Ich strapaziere Ihr Gehirn? Ihren Sinn für Moral und Anstand? Alles, woran Sie glauben? Denn Sie, Sie glauben immer noch. Habe ich recht? Oh ja, ich weiß es! Es ist mir gleich, auch wenn Sie bis zum bitteren Ende glauben und vielleicht sogar noch das Beten anfangen, ehe ich mit Ihnen fertig bin. Und nun möchte ich mich noch ein wenig an Ihrem leidenden Gesichtsausdruck erfreuen. Schließlich habe ich noch nicht wirklich erzählt, wie das damals gewesen ist mit diesem Kind. Ich muss gestehen, ich weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Das spielte keine Rolle. So wie es eigentlich nie eine Rolle spielt, welches Geschlecht ein Mensch hat. Nicht beim Sex und schon gar nicht im Angesicht des Todes. Ich mag diesen Ausdruck. Sehr sogar. Diese Vermenschlichung ist schon erstaunlich. Wieso gibt man dem Tod ein menschliches Antlitz? Denken Sie weiter. Wenn man dem Tod ein menschliches Gesicht gibt, wieso dann nicht meines? Ich leihe es ihm gern. Aber zurück zu der Geschichte, auf die Sie bereits warten. Ich fing mir ein Kind. Irgendeines. Sie sind überall. Wie die Ratten. Eine wahre Plage.«
* * *
Es war längst Zeit, diesen Arbeitstag zu beenden. Conrad Neumaier musste nicht auf die Uhr sehen, um das zu wissen. Es gab nichts, was er im Präsidium noch tun musste oder konnte. Trotzdem zog es ihn nicht nach Hause. Er schleppte zu viel Ballast mit sich herum, den er seiner Frau nicht zumuten wollte. Dass ihre Ehe seinen Beruf schon so lange verkraftete, grenzte an ein Wunder. Klaglos ertrug Irene Überstunden, Geistesabwesenheit und depressive Verstimmungen, wenn die Arbeit ihn bis an seine Grenzen trieb. Sie verdiente ein besseres Leben, ein leichteres. Es war sein Job, jede Bedrohung von ihr fernzuhalten.
In seinem Schreibtisch lagen drei Postkarten. Gleiches Motiv. Kein Text. Er war entschlossen, diese Sache auch weiter zu ignorieren.
Schwitzend lockerte er den Hemdkragen und schenkte Kaffee nach. Der lauwarme Rest schmeckte bitter.
Und dann war da noch dieses verfluchte Buch. Seinetwegen interessierte Mischa sich so brennend für Stockmann. Und für die Vergangenheit. Wieso musste Alexandra ausgerechnet mit diesem Kerl ausgehen?
Er durfte seine Zeit nicht mit solchen Geschichten verschwenden. Er musste einen Mord aufklären und kam nicht voran. Seit einer Woche lag der Fall Martin Hirschberger auf seinem Schreibtisch und alles, was sie vorzuweisen hatten, waren zwei DNA-Spuren, die in Sackgassen führten. Seit Stockmann in der Stadt war, kreuzten sich ihre Wege, ob er wollte oder nicht. Conrad Neumaier glaubte schon lange nicht mehr an Zufälle. Aber er glaubte an Professionalität. Und seine eigene litt unter der Antipathie, die er für diesen Mann empfand.
Wieso hatte Mischa das Buch liegen lassen? Conrad wollte es nicht in seinem Haus haben. Nun lag es hier, im Büro. Und wieso zum Teufel hatte er es letztendlich doch in die Hand genommen und begonnen zu lesen? Er verfluchte den Augenblick, der ihn dazu verführt hatte.
* * *
Jörg erwartete Mischa vor der Kneipe und pustete Rauchwölkchen in den Abendhimmel. Im Sommer standen hier dicht gedrängt die Tische und Bänke von vier nebeneinander liegenden traditionellen Apfelweinschänken. Jetzt wirkte der Affentorplatz trostlos, das Kopfsteinpflaster glänzte feucht und Jörg drückte sich eng an die Hauswand. Er zählte sich zu den bekennenden Gelegenheitsrauchern. Kein dringendes Bedürfnis also, nur
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