Ich bin ein Mörder
er ihn verunsicherte. Verunsicherte und faszinierte, mit diesem Blick, der ungehemmt in die Tiefe eindrang. Er spürte noch immer seine beängstigende Anziehungskraft. Seine Selbstsicherheit, die alle Konventionen zu lächerlichen Banalitäten degradierte, über die er sich mit Leichtigkeit hinwegsetzte. Aber das war nichts, worüber Jörg reden wollte, und eigentlich auch nicht nachdenken.
»Zurück zu Frau …?«
»Suttor.«
»Genau. Ich stelle ihr ein ordentliches Honorar in Aussicht.«
»Legst du ihr damit nicht die passenden Worte in den Mund?«
»Auch wahr. Ich schau sie mir an und improvisiere. Ich bin ein guter Menschenkenner.«
Auf Entfernung suchte er Augenkontakt zur Kellnerin. Sie verstand ihn ohne Worte und füllte zwei Gläser.
»Bedenke, dass die Zeit die Erinnerung trübt und verzerrt.«
»Oder Hässliches schön färbt. Ich bin kein Anfänger, Kleiner! Spätestens Freitag wissen wir alles, was es zu wissen gibt!«
Mittwoch, 31. Oktober
Nebel hüllte die Stadt in weiches, diffuses Licht. Seit Tagen schon. Wie ein feiner Regenschleier schlugen sich die Tropfen an der Fensterscheibe nieder. Erst gegen Mittag war mit einer Änderung zu rechnen. Wenn überhaupt. Selbstmörderwetter. Nicht, dass es dafür einen Beleg gab. Genauso wenig wie für das hartnäckige Gerücht, dass um Weihnachten die Suizidrate ansteigt. Völliger Unsinn. Trotzdem war sich Mischa sicher, sollte er jemals den Drang verspüren, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann an einem Tag wie diesem. Aber gewiss nicht heute.
Er drückte Alexandra einen dampfenden Kaffeebecher in die Hand, noch ehe sie die Jacke ausziehen konnte.
»Guten Morgen, Kollegin Müller. Ich sehe, wir nähern uns dem Gefrierpunkt.«
»Wieso?«
»Du trägst die Nase in schmückendem Säuferrot, das heißt, draußen ist es unter fünf Grad Celsius.« Er grinste vergnügt und reichte ihr die Milchpackung. Die Zusammenarbeit mit Jörg hatte seine Laune deutlich verbessert. Alexandra kniff das linke Auge zu, legte mit dem ausgestreckten rechten Zeigefinger auf ihn an, schoss und pustete das Mündungsfeuer beiseite.
»Wie war euer Fußballspiel? Habe ich was verpasst?«
Daran wollte Mischa lieber nicht erinnert werden. Eine haushohe Niederlage, nicht zuletzt dank seiner eigenen Geistesabwesenheit.
»Du bist schon wieder in der Zeitung.« Fred wedelte mit der aktuellen Ausgabe eines Boulevardblattes vor Alexandras Nase und ersparte ihm damit eine Antwort.
»Liebt diese Frau ein gefährliches Monster?«, prangte in großen roten Buchstaben über einem unscharfen Bild, auf dem sie Hand in Hand mit Tobias zu sehen war. »Oder führt dieser Mann uns alle an der Nase herum?«
Der abmildernde Untertitel war deutlich kleiner. Der Artikel bezog sich auf Jörgs Interview, rückte Tobias in die Nähe großer Massenmörder der Vergangenheit, spielte mit Ekel und Angst in mindestens dem gleichen Ausmaß wie Tobias in seinem Buch. Nebenbei stellte er immer wieder die Frage nach der Arbeit der Polizei. Spielte die Frau die Rolle einer Doppelagentin? Ermittelte die Polizei tatsächlich gegen ihn? Trickste der charismatische Erfolgsautor auch die Vertreter von Recht und Ordnung aus? Reißerisch aufgeworfene Fragen, keine Antworten. Bis auf ein klares Nein zu den Ermittlungen der Polizei.
* * *
In ihrer Küche im Frankfurter Stadtteil Niederrad bereitete Irene Neumaier das Mittagessen vor. Ausnahmsweise waren zwei ihrer drei Kinder gleichzeitig anwesend. Sabrina, die Älteste, warf skeptische Blicke in die Kochtöpfe.
»In der U-Bahn hat mich heute dauernd so ein Typ angeglotzt. Voll bescheuert.«
Irene lächelte. »Du bist halt ein hübsches Mädchen, da gucken die Jungs schon mal hin.«
Sabrinas ovales Gesicht, umrahmt von langen, fast schwarzen Haaren, wirkte zerbrechlich. Dazu lange Beine und anmutige Bewegungen. Jeder Mann sah sie gerne an.
»Quatsch. Nicht so angeguckt. Der hat nicht geflirtet, der hat mich beobachtet. Wenn ich ihn angesehen habe, hat er sich weggedreht.«
»Vielleicht war er nur schüchtern?«
»Nee. Zu alt. Aber auch nicht so ein geiler Sack, der auf kleine Mädchen steht. Der sah einfach unsympathisch aus. So ohne jeden Gesichtsausdruck und die Kapuze runtergezogen, dass man ihn kaum erkennen konnte.«
Sebastian holte sich eine halbvolle Milchflasche aus dem Kühlschrank und trank sie ohne abzusetzen aus.
»Papa lässt dich beschatten. Weil er wissen will, ob du dich immer noch mit Christopher triffst.«
»Du spinnst!«
Irene
Weitere Kostenlose Bücher