Ich bin ein Mörder
zehn Minuten. Heute nicht.
Als er noch neu im Revier gewesen war, hatte Alexandra ihn zu einem Heimspiel der Frankfurter Eintracht geschleppt. Damals noch im alten Waldstadion und in der zweiten Liga. Alexandras Bruder kam mit und auch Sebastian. Mischa fühlte sich fremd und unwohl inmitten der kollektiven Euphorie. Für eine halbe Stunde. Schwarz-rote Trikots, der Adler auf der Brust, aus tiefem Herzen gegrölte Fangesänge. Dazu Alexandra, die ihn mit strahlenden Augen in die Geheimnisse des Vereins einweihte und mit ihrem Rindswurstbrötchen fütterte. Und er, der zwar gelegentlich gerne selbst kickte, sich aber kein bisschen für die Bundesliga interessierte, lernte Spielernamen und Nummern auswendig. Noch ehe das Spiel angepfiffen worden war, hatte er sich infiziert. Gleich doppelt. Die Mannschaft gewann überlegen mit sechs zu zwei. Alexandra wickelte ihren Eintrachtschal um seinen Hals und umarmte ihn. Du hast uns Glück gebracht, Kleiner. Jetzt gehörst du zur Familie! Da musste es passiert sein. An diesem Nachmittag.
Stiche in der Seite zwangen Mischa, anzuhalten. Die kalte Luft schmerzte beim Einatmen. Blöde Idee, bei dem Wetter zu joggen. Der Kaffee musste längst durchgelaufen sein und seinen Kopf brauchte er für andere Gedanken als diese. Er rieb die klammen Finger gegeneinander und machte verärgert kehrt.
Zurück in seiner Wohnung überprüfte er seine E-Mails und schickte das übliche »Guten Morgen« auf die Reise zu Alexandra. Heute ohne einen weiteren Zusatz. Dazu fühlte er sich momentan nicht in der Lage. Offenbar war sie noch nicht aufgestanden, denn meistens kam sie ihm zuvor. Ein Ritual, immer, wenn sie keinen Dienst hatten. Mindestens diese eine Nachricht am Morgen. Manchmal brachten sie es bis auf zehn getauschte Witze oder Zweizeiler am Tag.
Er kickte die Schuhe in die Ecke, goss Kaffee in seine Lieblingstasse und kroch wieder unter die Bettdecke.
Im sicheren Bewusstsein, dass er seine Stimmung damit auf den vorläufigen Tagestiefstpunkt befördern würde, begann er wieder Dürrenmatt zu lesen, während er einen Kaffee nach dem anderen trank. An einer Stelle entfuhr ihm ein Lachen. Zynisch und böse fühlte es sich an und doch nicht zu unterdrücken. Der Kommissar befragte einen Schriftsteller, der unbedingt verdächtigt werden wollte. Eine Rolle, mit der sich Dürrenmatt selbst in den Roman schlich, wie Hitchcock in seine Filme. Und dieser Schriftsteller fühlte sich unterschätzt und vom Kommissar nicht ernstgenommen.
»Sie trauen mir den Mord nicht zu?«, las Mischa laut. »Fragte der Schriftsteller sichtlich enttäuscht.«
Oh ja, hier fand er Stockmann wieder, in seiner ganzen wichtigtuerischen Arroganz. Der in Anlehnung an den Roman die Person des Schriftstellers und des Verbrechers zu einer einzigen verschmolz. Verschachtelung vom Feinsten. Die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Aber wer war Stockmanns Gegenspieler im wahren Leben, der ihm die ausreichende Bösartigkeit absprach?
»Ich spreche sie dir ab«, murmelte er. »Aber es muss noch einen anderen geben. Eine weitere Parallele. Eine alte Verbindung. ›Der, den es betrifft, wird es wissen, wenn er das Buch liest‹, hast du im Interview gesagt. Und ich verwette meinen Arsch darauf, dass dieser jemand doch Conrad Neumaier ist.«
* * *
Linda Suttor verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wie viel?«
Jörg sah sich gezwungen, eine nicht unbeträchtliche Summe zu nennen, ehe sie im Türspalt zurücktrat und ihn einließ. Der Flur war eng. Der Schrank hinter der Tür lehnte sich windschief gegen eine Kommode. Beide waren zum Bersten vollgestopft und standen halb offen. Daneben türmten sich Schuhe in unterschiedlichen Größen. Überwiegend schmutzige Kinderschuhe. Aus der Küche hörte man die dazugehörigen Besitzer lautstark streiten. Linda Suttor herrschte sie an, gefälligst den Mund zu halten, und kommandierte den Ältesten ab, die ganze Horde zu beaufsichtigen, und zwar draußen. Dann wies sie Jörg einen Platz auf einem Küchenstuhl an, setzte sich ihm gegenüber und verschränkte wieder die Arme.
»Gernot, ja?«, nuschelte sie, während sie eine Zigarette zwischen die verkniffenen Lippen steckte und umständlich zu entzünden versuchte. Ärgerlich warf sie das leere Feuerzeug auf den Tisch zwischen das benutzte Geschirr und angelte vom Fensterbrett ein zweites. Jörg ließ ihr Zeit. Auf ihrem Pullover sah er die Reste der vorangegangenen Mahlzeit, die vermutlich das jüngste der Kinder dort
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