Ich bin ein Mörder
um zu registrieren, dass sie aufgelegt hatte. Sein Blick streifte über den überfüllten Tisch, bis ihre Worte die volle Wirkung entfalteten. Ein Teil von ihm hätte am liebsten den ganzen Plunder zu Boden gefegt oder aus dem Fenster geworfen. Resigniert legte er den Hörer auf die Gabel. Wieso hatte er geglaubt, ausgerechnet er könnte ungeschoren davonkommen?
Als Conrad Neumaier zu Hause ankam, war es merkwürdig still. Er stellte seine Tasche ab und lauschte. Aus dem Wohnzimmer war leises Schluchzen zu hören. Irene saß im Sessel, das Gesicht in die Hände gestützt. Er ließ den Mantel fallen, war mit wenigen Schritten neben ihr. Sanft legte er die Hand auf ihren Arm und sank in die Hocke. Sie weinen zu sehen, konnte er nur schwer ertragen.
»Es tut mir leid, Irene.«
Erbost schüttelte sie ihn ab und er wich unwillkürlich ein Stück zurück.
»Es geht hier nicht nur um Sabrina, habe ich recht?«
Irenes geschwollene Augen schauten an ihm vorbei. »Du hast mich im Stich gelassen. Und deine Kinder.«
Er nickte reumütig. »Was habe ich verpasst?«
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und rieb mit zitternden Fingern die Tränen von den Wangen.
»Basti steckt mitten in der Pubertät«, begann sie leise. »Mit mir redet er kaum noch ein Wort. Erinnerst du dich, wann er dich das letzte Mal um Rat gefragt hat? Nein. Kein Wunder. Er fragt dich nicht mehr. Sobald Mischa nach Hause kommt, ist Basti drüben bei ihm.«
Conrad knetete seine Hände. Das tat weh.
»Wenn Markus könnte, würde er sich einen Internetanschluss unter die Haut implantieren lassen, um sein ganzes Leben online abzuwickeln. Aber manchmal probiert er das echte Leben aus und verschwindet heimlich zum Gotchaspielen. Er wäscht dann mitten in der Nacht die verschmierten Klamotten, ist voller blauer Flecken, und manchmal heult er vor Schmerzen. Trotzdem geht er immer wieder hin. Er weiß nicht, dass ich davon weiß. Und Sabrina … Sie wird in zwei Monaten achtzehn. Vermutlich wird sie am gleichen Tag die Schule schmeißen, ihre Koffer packen und zu Christopher ziehen. Aber zumindest das mit Christopher weißt du ja wohl.«
Neumaier starrte sie erschüttert an und öffnete den Hemdkragen. Seine Familie löste sich vor seinen Augen in Trümmern auf und er stand blind und unfähig daneben.
»Was weiß ich?«
»Lässt du sie tatsächlich beschatten?«
»Wie bitte?«
»Sabrina ist ihm in der U-Bahn begegnet und Basti hat behauptet, mit dem Kerl gesprochen zu haben, den du auf sie angesetzt hast. Vorhin hat sie angerufen, dass sie nicht nach Hause kommen wird, solange das nicht aufhört. Weil sie glaubt, ihn vor der Schule gesehen zu haben. Ich kam gar nicht zu Wort. Am Anfang dachte ich, das ist wieder nur eine von Bastis Lügen. Aber dann stand ein Mann drüben auf der anderen Straßenseite. Genauso, wie sie ihn beschrieben haben. Er hat mir zugenickt und sich mit zwei Fingern an die Stirn getippt. Als ob ich wissen müsste, wer er ist. Aber ich weiß gar nichts, weil du ja nicht mit mir redest!«
Conrad wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Wie sah der Mann aus?«
»Wieso fragst du?«
»Irene! Wie sieht der Kerl aus? Wann genau hast du ihn gesehen?«
»Heute Morgen, etwa viertel vor acht. Kurz bevor Markus aus dem Haus ging. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Er sah ganz normal aus – Jeans, Kapuzenpullover, Turnschuhe – vollkommen unauffällig.«
Aschfahl tastete Conrad Neumaier nach der Schachtel mit den Herztabletten.
»Wo sind die Kinder jetzt?«, keuchte er, während er mit zitternden Fingern eine Kapsel aus der Verpackung löste. »Wo sind die Kinder, Irene?«
* * *
»Ich experimentierte über Monate. Es gab keinen Grund zur Eile. Niemand würde freiwillig, wissentlich, diesen Versuch über sich ergehen lassen. Es erforderte ebenso viel Feingefühl, die Dosierung zu erarbeiten wie die geeignete Person zu finden. Ich gewann wichtige Erkenntnisse über die Wirkungsweise meiner ausgewählten Substanzen, während eine Serie von vergifteten Haustieren die Stadt erschütterte. Wie bedauerlich für ihre Besitzer. Faszinierende Beobachtungen erschlossen mir eine völlig neue Perspektive auf das, was ich beabsichtigte zu tun. Schnell wurde mir klar, dass ich es zur Gänze miterleben wollte. Jedes einzelne Stadium mit meinen eigenen Augen sehen. Das verkomplizierte die Sache selbstverständlich. Doch es erschien mir nur als eine weitere Herausforderung, die meinen Intellekt kitzelte und zur
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