Ich bin ein Mörder
unbedeutenden Zeilen, die niemand je gelesen hatte. Kein Mensch, der ihn suchte, ihn betrauerte. Eine völlig nutzlose Existenz, die ich beendet hatte. Sein Vermächtnis gehörte allein mir, der ich allein seine Existenz beachtet hatte. Ich richtete mich auf, klopfte die Erde von seiner Jacke und seinen Stiefeln, die ich getragen hatte, um meine nicht zu beschmutzen. Über mir spannte sich blau der sommerliche Himmel. Föhnwetter. Mir klang noch sein Gejammer in den Ohren. Schrecklich, diese Gegend. So hübsch, doch immer diese Wetterlage, die den Kopf fast zum Bersten bringt. Ich hatte ihn davon befreit. Seine Kopfschmerzen für immer beendet.«
* * *
Alexandra kaute grübelnd auf ihrem Plastiklöffel. Den leeren Joghurtbecher in der Hand starrte sie auf die Wand aus Pflanzen auf ihrem Balkon. Immergrünes Efeu, dazwischen die Weinrebe, die sich immer stärker verfärbte. Tiefes, dunkles Rot schmückte die Äste, die langsam vertrockneten. Rot. Blutrot. Tobias konnte Blut nicht leiden. Obwohl er sein ganzes Buch darauf aufgebaut hatte. Aber als sie sich in seiner Gegenwart in den Finger schnitt, war er beinahe ohnmächtig geworden. Während sie den Finger in den Mund schob, um die Blutung zu stillen, beeilte er sich, Pflaster zu holen. Sein Gesicht war bleich und seine Hände zitterten. Auch sein Lachen klang gezwungen, als sie ihm vorschlug, sie könne ihm doch mit dem aufgeschlitzten Zeigefinger ein Bild malen. Endlich ein Original für seine Sammlung. Zugegeben, die Wunde war hässlich tief und klaffend. Wäre sie allein gewesen, hätte sie vermutlich laut geflucht. Aber an dem Schnitt war nichts Bedrohliches. Trotzdem hatte das fließende, rote Blut Tobias verstört.
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie mehr über ihn wissen sollte – nein – musste, über seine Vergangenheit, sein Leben, von dem er nicht erzählen wollte. Und zwar dringend. Wenn er nicht redete, musste sie einen anderen Weg finden.
Nachdenklich betrachtete sie sein Buch.
»Verrate du mir, wer er ist! Welches Geheimnis hat er dir anvertraut?«
Es gab nur zwei Morde, bei denen kein Blut floss. Gab es noch etwas, das diese beiden Passagen vom Rest unterschied? Hatten sie etwas anderes gemeinsam? Schnell blätterte sie zwischen den Seiten hin und her. Nein, das sah nach einer Sackgasse aus. Lebendig begraben der eine und vom Eisernen Steg geworfen der andere. Letzterer erfüllte vermutlich nur den einen Zweck, Dürrenmatt ins Spiel bringen zu können. Dürrenmatt, der Tobias ebenso wichtig war wie Goethe. War das ein Anhaltspunkt? Seine Hassliebe zu beiden Literaten? Dürrenmatt hatte er im Zusammenhang mit seinem Abitur erwähnt. Und hier in Frankfurt war er vermutlich zur Schule gegangen. Alexandra spuckte den Löffel auf den Wohnzimmertisch, schob den Teller mit dem angebissenen Brötchen beiseite und zog den Laptop näher zu sich heran. Irgendwo musste sie anfangen zu suchen, und irgendwann. Ihr blieb noch ein ganzer Tag, bis er zurückkam.
Gymnasium Johann Wolfgang von Goethe, Frankfurt am Main, tippte sie in die Suchmaske.
Sie zögerte und zog die Oberlippe zwischen die Zähne. Es grenzte an Verrat, was sie plante. Mit dem Wissen wächst der Zweifel. Eines seiner vielen Goethe-Zitate. Ihr Finger schlug hart auf die Returntaste. Es war an der Zeit, die Zweifel durch Tatsachen zu ersetzen.
Dieses Vorhaben kostete sie ihren freien Vormittag, ein halbes Dutzend Telefonate und ihren kompletten Vorrat an Höflichkeit, Diplomatie und Überredungskunst.
Am Ende hielt sie das Jahrbuch seiner Schule in der Hand. Mit Fotos, Namen und kurzen Beschreibungen aller Schüler und Lehrer des Abiturjahrganges 1986.
Tobias selbst hatte die Schülerzeitung geleitet, zusammen mit Kai Mertens und Dirk Wiesner. Arm in Arm posierten sie auf dem Abschlussfoto, mit selbstbewusster Haltung, reckten die Finger zum Siegeszeichen. Zwei lachten in die Kamera, während der dritte sich den Freunden zuwandte. Sein Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Alle drei zeichneten verantwortlich für die abgedruckten Kommentare im Jahrbuch. Beißend, treffend in jeder Hinsicht, abgründig und brillant.
Die Tutorin ihres Deutsch-Leistungskurses hieß Dr. Sophia Hübner-Seefelder. Sehr jung sah sie aus, auf dem Foto.
Drei Namen. Drei Spuren in die Vergangenheit. Alexandra legte das Buch beiseite. Sie spionierte. Dass Tobias das nicht tolerieren konnte, sollte er es je erfahren, verstand sich von selbst. Das Gefühl, es tun zu müssen, blieb.
* * *
Mischa
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