Ich bin ein Mörder
saß in der Hocke vor der Tür zum Dachboden. Ruhig und leise wiederholte er in regelmäßigen Abständen seine Appelle an die Frau auf der anderen Seite, die sich seit Stunden verschanzt hatte. Von drinnen waren schabende Geräusche zu hören. Ruth Markert saß direkt hinter der Tür.
»Sind Sie noch da?« Ihre Stimme klang ängstlich, besorgt.
»Natürlich bin ich noch da, Ruth. Das habe ich Ihnen doch versprochen.« Er lehnte sich gegen die Wand. Die gehockte Haltung war denkbar unbequem, aber besser geeignet für die Verständigung durch das Schlüsselloch. »Verraten Sie mir, warum Sie sich eingeschlossen haben?« Stille. »Warum haben Sie das Messer mitgenommen Ruth? Was ist passiert?«
Wieder hörte er das Schaben. Vermutlich rutschte sie mit dem Rücken entlang der Holztür. Unmöglich also, die Tür mit Gewalt zu öffnen.
»Sie glaubt nicht.«
»Ihre Mutter?«
»Sie glaubt nicht an Gott und nicht an den Teufel.«
»Haben Sie darüber mit Ihrer Mutter gestritten?«
»Sie will nicht, dass ich in die Kirche gehe. Dabei muss ich doch beten! Das ist das Einzige, was hilft. Seine Stimme ist leise, er verkleidet sich, damit man ihn nicht erkennt. Er ist hier, um uns alle zu holen. Der Teufel geht um in Frankfurt. Er hat einen Mann von der Brücke gestoßen. Und darum habe ich das Messer dabei. Mich soll er nicht kriegen.«
Mischa brach der Schweiß aus. Lag das an dem Gespräch, an der Körperhaltung oder einfach an der Temperatur in diesem stickigen Gebäude? Nachwirkungen der Vergiftung? Die Waffe drückte gegen seine Hüfte. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und richtete sich steifbeinig auf.
»Glauben Sie an Gott?«, flüsterte Ruth.
Ein jäher Schwindel nahm ihm die Sicht. Vor seinen Augen grieselten graue Schneeflocken, wie früher auf dem Fernsehbildschirm nach Sendeschluss. Woran glaubst du? Durch das Rauschen in seinen Ohren drang die Frage in sein Bewusstsein. Und er meinte, ein hämisches Lachen zu vernehmen, während er nach der Antwort suchte.
Alexandra fühlte sich wie beim Zirkeltraining. Dauernd sprintete sie die Treppe hoch und runter. Verscheuchte die sensationslüsterne Nachbarschaft, hielt Kontakt zu Mischa und befragte Ruths Mutter. Eingeklemmt zwischen Rüschendeckchen, Brokatkissen und Nippes. Immer mit einem Ohr an der halb geöffneten Wohnungstür. Im Zweifel wollte sie lieber selbst schnell handeln können, wenn die Situation es erforderte, und sich nicht auf die beiden Sanitäter verlassen, von denen sie als Verstärkung angefordert worden waren. Immerhin hatte die Frau dort oben ein Messer.
Im Treppenhaus hing der Geruch diverser Mahlzeiten. Zwiebeln, Fisch, Frittierfett und über allem eine schwache Essigwolke. Neben der Eingangstür klebte ein zerfledderter Zettel mit der Hausordnung. Verbote und Anweisungen unter Androhung von unterschiedlichen Repressalien bei Nichtbeachtung. Daneben die Namen der Hausbewohner, ordentlich aufgelistet und mit Datum festgehalten, wer wann zu putzen oder den Bürgersteig zu fegen hatte. Auch eine umfangreiche Müllentsorgungsanleitung. Alexandra hatte beim Anblick dieser Reglementierungen sofort eine heftige Beklemmung gefühlt. Da musste man ja durchdrehen.
Aber vielleicht hatte Ruth den Teufel ja auch tatsächlich gesehen. Die Leonhardtskirche, in die sie zum Beten ging, lag dem Haus fast direkt gegenüber. Sie konnte dem Mörder vom Eisernen Steg also ganz nah gekommen sein, als dieser auf der Flucht den Pullover entsorgte.
Endlich hörte Alexandra den Arzt kommen und rannte ihm entgegen, um Bericht zu erstatten.
»Sie sitzt immer noch hinter der Tür«, sagte sie abschließend. »Mein Kollege spricht seit etwa dreißig Minuten mit ihr.«
Der Arzt zupfte sich nachdenklich am Ohr. »Ich sehe mal nach der Mutter. Die hat zu hohen Blutdruck. Ich war schon öfter hier«, erklärte er auf Alexandras fragenden Blick. »Wenn Ruth immer noch redet, passiert heute nichts mehr. Zwangseinweisung wird nicht nötig sein. Sobald sie durch die Tür ist und das Messer abgibt, können Sie gehen.«
Alexandra schnaubte empört. Der Kerl machte es sich leicht, und Mischa konnte sehen, wie er klarkam. Ärgerlich stapfte sie wieder nach oben, um ihm beizustehen. Aber das war gar nicht mehr nötig. Vor der geöffneten Dachbodentür stand Ruth. Eine fette Frau im gestreiften Kittelkleid, strähnige braune Haare hingen ungepflegt über ihre Schultern. Alexandra gab resignierend den Gedanken auf, sie zu befragen. Manchmal sah man es einfach an den
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