Ich Bin Ein Schwein
den Frühling. Ich verharre einige Sekunden an die Küchentür gelehnt, dann setze ich mich an den gedeckten Tisch im Wohnzimmer. Glänzend weiße Spitze. Helene schenkt Kaffee aus der Edelstahlisolierkanne in Porzellantassen, die lachsfarbene Blüten und schwarze Ränder zieren. Dessertteller in gleichem Design stehen neben Milchkännchen und Zuckerdose, neben Schalen mit Keksen.
„Greif zu“, sagt sie und reicht mir die Florentiner.
Ich lege einen auf meinen Teller. Die gab es früher immer bei meiner Großmutter, sogar zum Frühstück. Florentiner und Orangenmarmelade, Mövenpick-Kaffee und Kandis für den Tee. Allerdings keine Einbauküche und keine Spitze. Bei unseren Besuchen legte sie alles auf den alten graumelierten Küchentisch und wir aßen von blauem Zwiebelmustergeschirr, neben dem alten Boiler, dem surrenden Kühlschrank und dem tropfenden Wasserhahn. Manchmal schaltete sie das Radio ein, immer den Klassikkanal, der dann seine Melodien spielte, als gehörten sie in ihre Küche und nicht in die großen Opernsäle und Schauspielhäuser. Meine Mutter saß mit ihrem Leopardenmusteranzug am Tisch, der orangerote Lippenstift leuchtete. Mein Vater trug Krawatte und meine Mutter musterte ihn zufrieden. Nur meine Großmutter und ich hatten einen Pakt geschlossen. Sie genoss das Essen und unseren Besuch, hatte nur den Bademantel über das Nachthemd gezogen und lächelte in meine Richtung, während meine Mutter mich aufforderte, mich nun endlich zu waschen, wir hätten immerhin gleich zehn Uhr ‚und es gäbe so viel zu erledigen, die Verwandtenbesuche, den Friseurtermin, die Einkäufe.
„Magst du keine Florentiner?“
Helene deutet auf meinen Teller, der noch unberührt
vor mir steht.
„Doch, doch, sehr sogar.“
Mein Blick streift die goldbesprenkelte Kerze, die in der Mitte des Tisches steht: „Wollen wir sie nicht anzünden?“
Helene eilt hinaus, kehrt mit Streichhölzern zurück und entzündet den Docht.
Sie hat mir bereits nach unserer ersten Begegnung das Du angeboten. Vielleicht, weil ich sie schon besser kannte, als sie ahnte.
Meine neue Wohnung gibt den Blick in ihr Wohnzimmer frei. Von meinem Fenster aus habe ich ihren Umzug beobachtet; ihre Anweisungen, die den Männern galten, die nach und nach die Küchenelemente, das braune Sofa, ihr Ehebett, das sie nun allein nutzt, und Kiste um Kiste in ihre Wohnung trugen, die sie schluckte wie ein Schiffsbauch. Ich habe beobachtet, wie Helene allein zurückblieb, als die Männer längst abgefahren waren und ihr Trinkgeld entgegengenommen hatten, wie ihre toupierten Haare dem Wind standhielten, wie sie lautlos dastand, die eingefrorene Mimik ins Gesicht geschrieben und die Hände in die Hüften gestemmt. Das war meine Chance. Ich habe ihr geholfen, die letzten übrig gebliebenen Kisten in die Wohnung zu tragen, sie mit meiner Plauderei vom Grübeln abgelenkt und einen ersten Blick in die Küche ergattert, die voll stand mit Helenes Möbeln und Kisten.
Jetzt sitzt sie mir gegenüber. Ihr roter Lippenstift leuchtet. Ich schätze sie auf Mitte vierzig. Sie ist mittelgroß und schlank, ihre Finger ohne Ringe. Eine glänzende Fassade. Ihr Alter ist nur an den rissigen Falten der Stirn, ihren von der Hausarbeit rauhen Händen und den aufeinandergespressten schmalen Lippen abzulesen. Ihre Mundwinkel beschreiben abfallende Linien.
„Ich habe etwas für dich, obwohl ich nicht ganz sicher
bin, ob du so etwas magst. Sie ist aus einem Ottenser Laden, ein Einzugsgeschenk, nachträglich.“
Helene nimmt das mit Rosenpapier eingewickelte Geschenk, blickt mich fragend an, schüttelt verlegen den Kopf.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen.“
Ich lausche dem Knistern des Papiers und sehe ihr erstauntes Gesicht. „Ich dachte, es passt bestimmt gut ins Wohnzimmer. Dann wirkt es gleich nicht mehr so streng.“
Helene besieht die Lampions hinter Reispapier, mit dem kleinen Jungen und dem Schmetterlingsmädchen. „Die küssen sich“, sagt sie.
Ich nicke: „Hast du weiße Reißzwecken? Dann häng ich sie dir gleich auf.“
Sie zögert einen Moment.
„Vielleicht muss ich beginnen, das hier zu mögen.“ Der Ausdruck in ihrem Gesicht gleicht dem beim Umzug. Wieder steht sie für einen kurzen Augenblick allein und bewegungslos vor dem Haus, Sekunden nur, dann versucht sie ein Lächeln, eingefroren wie hinter Glas, ein Ausstellungsstück im Museum.
Mein Trainingslächeln beim Kuchenessen mit Kaffee und Torte und Kerzen, wenn meine Mutter mich ohne meine
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