Ich Bin Ein Schwein
Wangen. Im Gebüsch raschelt ein nächtliches Tier. Auf der Straße summt jemand ein fernes Liebeslied, dem ich lausche, bis es weiterzieht und verstummt. „Wie eine Statue“, sagt Helene, die dicht hinter mir steht. „Du hast mich gar nicht bemerkt.“
Ich drehe mich nicht nach ihr um, nicke nur, den Blick in den Garten gerichtet. Die Kastanie wirft Schatten an die Mauer, die Dunkelheit schluckt alle Geräusche. Als ich mich umwende, steht Helene vor dem Herd, beobachtet die aufsteigenden Bläschen, die an der Wasseroberfläche platzen. Lange ist kein anderer Laut zu vernehmen.
„Trinkst du Tee?“, frage ich.
Sie fixiert ihre Teebeutelsammlung.
„Helene?“
„Ich werde noch ausgehen, jetzt gleich.“ Sie betont jedes Wort, als käme ihm eine Bedeutung zu. Alles an ihr ist von einer Entschlossenheit, die mich an ihren Einzug denken lässt. Der Blick, in die Weite gerichtet, die Mimik, hinter Glas. „Mach dir keine Sorgen. Vor morgen früh bin ich nicht zurück.“
Sie legt ihre Schlüssel auf die Arbeitsplatte. Ihre Zweitschlüssel, wie ich vermute.
„Du kannst bleiben, wenn die Heizungsmonteure auf sich warten lassen. Im Kühlschrank steht so allerlei, bedien dich, wenn du Hunger hast.“
„Du siehst so festlich aus“, bemerke ich.
Helene trägt ein weißes Frühlingskleid mit Schmetterlingsapplikationen. Die Dreiviertelärmel werden zum Ellbogen hin breiter, überziehen ihn mit Spitze. In solcher Kleidung habe ich sie noch nie gesehen. Sonst trägt sie rot, manchmal gelb, oft Anzüge, in starke Farben getaucht. Jetzt wirkt sie fast kindlich, ein Mädchen im ersten Feengewand, zum Fasching geschneidert. Sie reicht mir die Hand. Ein goldener Ring blitzt an ihrem rechten Finger.
„Vielleicht doch einen Tee?“, frage ich, „du solltest etwas essen, du bist mager geworden. Wir haben noch Weißbrot und Oliven. Oder Wein, vielleicht?“
Sie schüttelt den Kopf: „Ich muss noch etwas erledigen, das duldet keinen Aufschub.“
Sie hält noch immer meine Hand. Unvermittelt lässt sie sie fallen, wendet sich ab und zieht die Tür ins Schloss. Ich gieße heißes Wasser über einen Hagebuttenteebeutel in eine von Helenes Porzellantassen. Blau sollten sie sein, blau und trichterförmig. Immerhin wärmt der Tee die Hände. Die Küche erscheint mir plötzlich zu still. Ich gehe ins Wohnzimmer. Ihren Brief bemerke ich nicht sofort. Aus den Lautsprechern tönt Wagner. Posaunen, vom Orchester unterlegt. Ich entzünde eine Kerze. Auf der Kommode liegen in einer durchsichtigen Schutzhülle Helenes Papiere. Mietvertrag, Personal-, Bank-, und KFZ-Papiere, Scheidungsunterlagen und Notarnachlass, steht auf dem Klebeschild. An Helenes Vase, die rote Papageientulpen fasst, lehnt ein weißer Umschlag aus Büttenpapier. Schönschrift aus blauer Tinte, einzelne Buchstaben, ein wenig zittrig.
„Für Laura“ steht auf dem zugeklebten Kuvert.
Für einige Sekunden hält die Zeit inne. Bevor der Vorhang fallen kann, sind alle Blicke auf mich gerichtet. Mein Atem geht schnell, das Herz rast. Ich bleibe allein zurück. Der Umschlag ummantelt ihre Zeilen, schluckt ihre Geschichte. Ich puste die Kerze aus, schiebe das Kuvert ungeöffnet in meine Mappe, verstaue diese im Rucksack, greife Helenes Schlüssel, die noch immer auf der Arbeitsfläche in der Küche liegen, ziehe Jacke und Stiefel an, lösche alle Lichter, ziehe die Tür ins Schloss.
Erase III
Sein Umzugswagen ist klein, ein weißer Sprinter mit grüner Aufschrift. Er ist jung, ich schätze ihn auf maximal dreißig.
Neunundzwanzig, würde er sagen, das klingt hipper, und hip ist er, mit seiner Kamera, die ihm um den Hals baumelt, den ausgewaschenen Jeans, den schwarzen Nike-Turnschuhen und den etwas aus der Form gewachsenen Haaren, zwei oder drei Wochen über dem fälligen Friseurtermin. Er trägt ein penetrantes Grinsen um die Mundwinkel, das Rückschlüsse auf seine Freunde ziehen lässt, die ihn nicht anders kennen. Sie helfen bei Umzügen, begleiten ihn zum Squashspielen und beginnen dann selber zu trainieren. Mit ihnen spricht er stundenlang über Serien, Filme und Fantasybücher. Abziehbilder, die ebenso denken wie er. Zuhörerschaft und Bewunderer, die seine Welt nicht infrage stellen. Während sie Kiste um Kiste in die Wohnung schleppen, klopfen sie sich gegenseitig immer wieder auf die Schultern, honorieren die Arbeit des anderen mit einer Bierflasche, die sie sich anerkennend überreichen, greifen nach Zigaretten, drücken die Kippen an der Hauswand aus,
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