Ich bin eine Nomadin
die Jahrhunderte. Von ihrer uralten Nomadenkultur gelangte sie in eine neuzeitliche Kultur, mit der sie sich nie anfreunden konnte. Ich war gewissermaßen mein Leben lang damit befasst, dem Geist meiner Großmutter zur Ruhe zu verhelfen.
Sobald ich sprechen konnte, lernte ich, Großmama mit ihrem förmlichen Titel anzusprechen, ayeeyo. Ich sagte nie einfach nur »Du«, sondern musste immer das Wort »Großmutter« verwenden, um ihr meinen Respekt zu erweisen. Wie viele andere Regeln kontrollierte sie auch diese mit unnachgiebiger Strenge. Und Neugier konnte sie überhaupt nicht leiden.
Wenn Großmutter mir beibrachte, Ziegen zu melken und Feuer anzuzünden und mit mir schimpfte, weil ich wieder etwas nicht gut machte, nahm ich manchmal all meinen Mut zusammen und fragte sie, wie alt sie denn gewesen sei, als sie ihr erstes Feuer entfacht habe, und wer ihr das Melken beigebracht habe. Wenn sie mal wieder klagte, welch ein frevelhafter und schrecklicher Fehler es sei, mich in die Schule zu schicken, wollte ich wissen, ob es in ihrer Jugend keine Schule gegeben habe. Solche Fragen zu ihrem Leben beantwortete sie mit verbalen und manchmal auch körperlichen Strafen. »Das Zeitenende ist nah«, schrie sie dann. »Du respektloses Kind, du hast die Dreistigkeit, mich das zu fragen? Mögen deine Vorväter dein Leben abkürzen! Was geht es dich an, wie alt ich bin? Wäre es dir lieber, wenn ich tot wäre? Bin ich dir etwa im Weg?« Ihre Stimme schwoll von einem Zischen zu einem Kreischen an und ebbte dann wieder zu einem Zischen ab. Sie schritt im Raum auf und ab, den Zipfel ihres Gewandes unter den Arm geklemmt. Dann baute sie sich über mir auf wie ein Habicht, der über seiner Beute kreist, und packte mich mit der freien Hand am Haar oder am Ohr. Als ich größer wurde und mich ihr nicht mehr so leicht entwinden konnte, lernte ich, mich schon in Richtung Tür zu bewegen, wenn Großmutter zornig wurde.
» Ayeeyo, ayeeyo, vergib mir, bitte, vergib mir«, jammerte ich. Doch meine Großmutter lehrte mich, vorsichtiger zu sein, und so hielt ich bald ganz den Mund.
Wenn sie es wollte, erzählte sie uns aber doch aus ihrer Jugend. Diese Momente kamen allerdings völlig willkürlich und für uns unerwartet. Sie erzählte uns dann von Notzeiten, die sie durchlitten hatte, Trockenperioden und Epidemien. Am meisten jedoch erfuhr ich über sie und viele andere interessante Themen, indem ich heimlich lauschte, wenn sie sich mit weiblichen Verwandten unterhielt oder im Flüsterton Ma für Entscheidungen und Verhaltensweisen tadelte, die sie missbilligte. So erfuhr ich von den Spannungen zwischen ihr und meinem Großvater, von ihrer Abneigung gegen seine anderen Frauen und von ihrem schlimmsten Dilemma: Jahr für Jahr eine Tochter zur Welt zu bringen statt eines Sohnes.
Das belastete sie am meisten. Großmutter benutzte Formeln wie: »Ich schwöre bei meinem einzigen Kind«, womit sie ihren einzigen Sohn meinte. Obwohl sich ihre Töchter immer um sie gekümmert hatten, tat Großmutter sie als völlig unwichtig ab. Zu mir sagte sie immer wieder: »Wenn du meine Tochter wärst, würdest du dich benehmen, oder ich würde dich eigenhändig ganz tief eingraben, so, wie man es mit denen tut, die Schande bringen.« Sie achtete nur die Werte der Nomaden, und nur die Charakterzüge der Nomaden zählten für sie.
Es stimmte: Meine Großmutter war aufbrausend und setzte immer ihren Kopf durch. Immer. Gegen den ausdrücklichen Wunsch meines Vaters beschnitt sie Haweya und mich. Als Ma ihr das vorhielt, steigerte sie sich in einen grässlichen Wutanfall hinein, drohte, sie zu verlassen, und drehte damit den Spieß um, denn nun musste Ma sie anflehen, zu bleiben.
Großmutter war dreizehn, als ihr Vater sie Artan, dem Sohn des Umar, Sohn des Ahmed, Sohn des Samakaab, zur Frau gab. Ihr Alter zum Zeitpunkt der Hochzeit konnte nur anhand einer komplizierten Aufrechnung der Jahreszeiten, der Trockenperioden, der Epidemien und anderer von ihren Eltern und Verwandten mündlich übermittelter Ereignisse bestimmt werden. Der Brautpreis ihres Vaters belief sich auf Kamelkühe, Ziegen, Schafe, mehrere Scheffel Reis, Goldmünzen und den Schwur, künftige Konflikte zwischen den beiden Clans nicht kriegerisch, sondern durch eine Aussprache zu lösen. Ein Tier wurde geschlachtet. Auf dem Fest wurden Fleisch und Kamelmilch serviert. Es folgten Gedichtrezitationen und rhythmische Tänze zu Trommelklängen. Am nächsten Tag reiste der Bräutigam mit seiner
Weitere Kostenlose Bücher