Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ich Bin Gott

Titel: Ich Bin Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Faletti
Vom Netzwerk:
wichtig sein?
    Russell ging zum Tisch, nahm das Foto und betrachtete es eine Weile, ohne zu begreifen, was das Gesicht dieses braunhaarigen Jungen mit der schwarzen Katze auf dem Arm zu bedeuten hatte. Das Blatt Papier wiederum war die Fotokopie eines handgeschriebenen Briefs. Die Schriftzüge waren eindeutig die eines Mannes. Russell begann, die grobe und krakelige Handschrift zu entziffern.
    Während er die Worte las und ihren Sinn verstand, sagte er sich immer wieder, dass es nicht wahr sein konnte. Er musste den Brief dreimal lesen, um sicher zu sein. Der Atem stockte ihm, und er legte Brief und Fotografie auf den Tisch zurück. Nur Ziggys Blutfleck bestätigte, dass die ganze Geschichte nicht nur ein Traum war.
    Russell wandte den Blick wieder dem Feuer zu, das am Horizont weiterbrannte.
    Er war verwirrt. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, ohne dass er auch nur einen einzigen festhalten konnte. Der Nachrichtensprecher von NY 1 hatte die Adresse des zerstörten Gebäudes nicht genannt. Sicherlich würden sie das in der nächsten Nachrichtensendung nachholen.
    Er musste es unbedingt wissen.
    Er ging zum Sofa zurück und schaltete den Ton des Fernsehers wieder ein, um die neuesten Nachrichten zu hören. Ihm war selbst nicht klar, ob er sich eine Widerlegung oder eine Bestätigung seiner Befürchtungen wünschte.
    Da saß er und fragte sich, ob die Leere, in die er zu stürzen drohte, der Tod war. Und ob sein Bruder dasselbe empfunden hatte, wenn er einer Geschichte nachgegangen war oder eines seiner Fotos geschossen hatte. Russell verbarg das Gesicht in den Händen. Im Dunkel der geschlossenen Augen wandte er sich an den einzigen Menschen, der je für ihn Bedeutung gehabt hatte. Es war sein letzter Halt, als er sich vorzustellen versuchte, was Robert Wade in seiner Situation getan hätte.

13
    Pater Michael McKean saß in einem Sessel vor seinem alten Fernsehgerät. Sein Zimmer im Joy, dem Rehabilitationszentrum für ehemalige Drogenabhängige, das er in der Pelham Bay gegründet hatte, war eine Mansarde mit Dachschrägen, weißen Wänden und einem Boden aus breiten Tannenholzdielen. In der Luft lag noch der Geruch des Holzschutzmittels, mit dem sie zwei Wochen zuvor behandelt worden waren. Die billigen Möbel, aus denen die spartanische Einrichtung bestand, hatte man überall zusammengesammelt. Die Bücher im Regal, auf dem Schreibtisch und auf dem Nachttisch waren auf dieselbe Weise hierhergelangt. Es waren Geschenke von Gemeindemitgliedern, manche ausdrücklich für ihn. Pater McKean beanspruchte für sich selbst nur die ältesten und abgenutztesten Dinge. Aus Prinzip, aber auch weil er die Dinge, die das Alltagsleben angenehmer zu machen versprachen, lieber seinen Schützlingen überließ. Die weißen Wände seines Zimmers waren kahl, bis auf das Kruzifix über dem Bett und die Reproduktion des Gemäldes von van Gogh, auf dem der Maler in der ihm eigenen Farbgebung und visionärer Perspektive die Ärmlichkeit seines Zimmer im gelben Haus von Arles eingefangen hatte. Obgleich die beiden Räume völlig unterschiedlich waren, hatte man den Eindruck, dass sie miteinander in Verbindung standen und das Bild an der Wand in Wirklichkeit eine Öffnung war, durch die man an einen weit entfernten Ort in einer ganz anderen Zeit gelangte.
    Hinter den vorhanglosen Fenstern war das Meer zu sehen, in dem sich der windzerzauste blaue Himmel dieses späten Apriltages spiegelte. Als Junge hatte ihm seine Mutter an solchen klaren Tagen immer erzählt, dass die Sonne der Luft die Farbe von Engelsaugen gebe und der Wind den Engeln zu weinen verbiete.
    Sein Mund verzog sich zu einem bitteren Strich, und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Diese so fantasievolle Geschichte hatte sich tief in seinem damals noch unschuldigen Gemüt festgesetzt und sich für immer in die Erinnerung eingegraben. Für die Gegenwart hielten die Nachrichten von CNN ganz andere Worte und Bilder bereit und schufen für zukünftige Erinnerungen Szenen, die immer schon nur der Krieg zu verkörpern vermochte.
    Der Krieg kam, wie alle Epidemien, früher oder später überall hin.
    Auf dem Bildschirm sah man den Korrespondenten Mark Lassiter, der nicht zu glauben schien, was er da sah. Augen, Haare und Hemdkragen zeugten von einer durchwachten Nacht. Im Hintergrund waren die Überreste eines zerstörten Gebäudes zu erkennen, aus dem wie zum Hohn graue Rauchfahnen aufstiegen, sterbende Überbleibsel der Flammen, die lange die Dunkelheit erhellt und

Weitere Kostenlose Bücher