Ich Bin Gott
Tisch neben dem Sessel lag. Der Pater stellte den Ton des Fernsehers ab und nahm das Gespräch an. Die Stimme von Paul Smith, dem Pfarrer von Saint Benedict, war vor Aufregung fast nicht zu verstehen.
» Michael, siehst du fern?«
» Ja.«
» Eine entsetzliche Geschichte.«
» Ja, das ist es.«
» All diese Menschen. All diese Toten. Diese ganze Verzweiflung. Ich kann es gar nicht fassen. Was mag im Kopf eines Menschen vorgehen, der so etwas tut?«
Pater McKean wurde von bleierner Müdigkeit erfasst, weil er durch den absoluten Mangel an Menschlichkeit tief in seinem Menschsein getroffen war.
» Eine Sache müssen wir uns klarmachen, Paul. Dieser Hass ist kein Gefühl mehr, dieser Hass ist ein Virus. Wenn er sich der Seele bemächtigt, geht der Verstand verloren. Und die Menschen werden anfällig.«
Der alte Pfarrer am anderen Ende der Leitung schwieg eine Weile, als müsste er über die Worte nachdenken. Dann stellte er eine Frage, die vermutlich der eigentliche Grund seines Anrufs war.
» Hältst du es angesichts der Ereignisse von gestern Abend überhaupt für angebracht, das Hochamt zu zelebrieren? Wäre eine einfache Messe nicht besser?«
In Saint Benedict war die Messe um Viertel vor elf die wichtigste Sonntagsmesse und wurde im Schaukasten als Hochamt angekündigt. Auf der Empore über dem Eingang, wo die Orgel stand, saß der Chor. Weitere Sänger sangen Psalmen direkt am Altar. Das Hochamt begann immer mit einer kleinen Prozession, an der neben dem Zelebranten und vier Ministranten in weißen Chorhemden auch ein paar auserwählte Gemeindemitglieder teilnahmen.
McKean dachte einen Augenblick über den Vorschlag nach, dann schüttelte er den Kopf, als könnte sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung ihn sehen.
» Ich glaube nicht, Paul. Gerade heute bedeutet das Hochamt, Position zu beziehen und auf diese Barbarei zu antworten, ganz gleich, wer dafür verantwortlich ist. Wir werden es uns nicht nehmen lassen, auf die Weise zu Gott zu beten, die wir für richtig halten. Und auf dieselbe feierliche Weise ehren wir die unschuldigen Opfer dieser Tragödie.«
Nach einer kurzen Pause sprach er weiter.
» Das Einzige, was wir vielleicht machen sollten, ist, die Lesung zu ändern. In der Liturgie von heute ist eine Passage aus dem Johannesevangelium vorgesehen. Die würde ich durch die Bergpredigt ersetzen, denn die Seligpreisungen kennen auch die Nichtgläubigen. An einem Tag wie diesem ist das meines Erachtens sehr wichtig, denn das Mitleid darf nicht vom instinktiven Wunsch nach Rache ausgelöscht werden. Rache ist die unvollkommene Gerechtigkeit dieser Welt. Wir dagegen sprechen zu den Menschen von einer Gerechtigkeit, die nicht von dieser Welt ist und sich auch nicht der Gefahr des Irrtums ausgesetzt sieht.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst Schweigen.
» Lukas oder Matthäus?«
» Matthäus. Die Passage bei Lukas beinhaltet so etwas wie Rachsucht, was nicht mit unseren Gefühlen vereinbar ist. Als Kantaten würde ich vorschlagen: The whole world ist waiting for love und Let the valley be raised. Doch das sollten wir auch noch mit Bennett, dem Chorleiter, besprechen.«
Wieder eine Pause, dann die Erleichterung in der Stimme des Pfarrers, dessen Zweifel nun zerstreut waren.
» Ich denke, du hast Recht. Da ist nur noch etwas, um das ich dich bitten wollte. Und ich bin mir sicher, dass auch die anderen so denken.«
» Was denn?«
» Es wäre mir lieb, wenn du die Predigt halten könntest.«
Pater McKean verspürte eine leise Rührung. Reverend Smith war ein sensibler Mensch, und wenn er über Dinge sprach, die ihn mitnahmen, hatte er seine Stimme nicht immer unter Kontrolle.
» In Ordnung, Paul.«
» Dann bis gleich.«
» Ich mache mich in ein paar Minuten auf den Weg.«
Pater McKean legte das Handy wieder auf den Tisch, stand auf und trat ans Fenster. Mit den Händen in den Taschen blieb er dort stehen, ohne das Panorama wirklich wahrzunehmen. Die vertrauten Formen und Farben, das Meer, der Wind, die Bäume schienen an diesem Tag fremde Zuschauer einer fremden Welt zu sein, verständnislose und schwer verständliche Bilder. Was er soeben in den Nachrichten gesehen hatte, überlagerte den gewohnten Blick. Die schlimmen Zeiten des 11 . September kamen ihm wieder in Erinnerung, der Tag, der die Zeit und die Welt in ein Vorher und ein Danach geteilt hatte.
Er dachte daran, wie viele Verbrechen im Namen Gottes begangen worden waren, mit denen Gott gar nichts zu tun
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