Ich Bin Gott
gegenüber könne er für nichts garantieren. Einige blieben. Wir auch.«
Vivien wagte eine Frage. » Bist du sicher, dass Robert wirklich ein mutiger Mensch war?«
» Früher habe ich das geglaubt. Jetzt zweifele ich manchmal daran.«
Russell nahm seine Erzählung wieder auf. Aus seiner Stimme war Erleichterung, aber auch Anstrengung herauszuhören.
» Robert hatte einen Freund, Tahir Bajraktari, wenn ich mich recht entsinne. Ein Lehrer, der mit seiner Frau in der Peripherie von Priština lebte. Robert gab ihm Geld, und Tahir versteckte uns, bevor er die Stadt verließ, in einem Kellerraum seines Hauses. Man erreichte ihn über eine Falltür, die im hinteren Teil des Hauses unter einem Teppich verborgen war. Von dort konnten wir den Kampflärm hören. Die UÇK-Kämpfer griffen an, schlugen zu und verschwanden wieder im Nichts.«
Wenn sie ihm jetzt in die Augen blicken würde, dachte Vivien, würde sie dort vielleicht die Bilder erblicken, die Russell in diesem Moment noch einmal sah.
» Ich war starr vor Angst. Robert tat alles, um mich zu beruhigen. Eine Weile blieb er bei mir, doch es zog ihn nach draußen. Es war einfach stärker als er. Ein paar Tage später verließ er unser Versteck, die Taschen voller Filme. Auf den Straßen waren die Maschinengewehrsalven zu hören. Ich habe ihn nicht mehr lebend gesehen.«
Russell nahm die Wasserflasche und trank einen großen Schluck.
» Als er nicht wiederkam, bin ich raus, um ihn zu suchen. Bis heute weiß ich nicht, woher ich den Mut dazu genommen habe. Ich bin durch die verlassenen Straßen geirrt. Priština war eine Geisterstadt. Die Menschen waren alle geflohen. An einigen Häusern standen die Türen auf, und das Licht brannte noch. Ich bin in Richtung Zentrum gegangen. Da habe ich ihn dann gefunden. Er lag auf dem Boden, auf einem Platz mit Bäumen. Dort waren auch noch andere Leichen. Seine Brust war von einer Maschinengewehrsalve zerfetzt worden. Den Fotoapparat hatte er noch in der Hand. Ich nahm den Apparat und lief zurück, um mich zu verstecken. Ich habe um Robert geweint, und ich habe um mich geweint, bis ich keine Kraft mehr hatte. Dann begannen die Bombardierungen der NATO. Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Versteck war und zugehört habe, wie die Bomben fielen. Gewaschen habe ich mich nicht, und die Lebensmittel, die ich noch hatte, musste ich rationieren. Bis mir irgendwann auffiel, dass die Stimmen, die ich draußen hörte, englisch sprachen. Da habe ich begriffen, dass ich gerettet war, und bin aus meinem Versteck gekommen.«
Russell nahm wieder einen gierigen Schluck, als würde die Erinnerung an die Tränen von damals seinen Körper jetzt austrocknen.
» Als ich schließlich die Fotos aus Roberts Fotoapparat entwickelt hatte, fand ich eine Aufnahme, die mich vollkommen erschütterte. Sofort war mir klar, wie außergewöhnlich sie war. Es war eine dieser Aufnahmen, die einen Fotografen sein ganzes Leben lang verfolgen.«
Vivien hatte das Foto genau vor Augen. Die ganze Welt kannte es. Es war eines der berühmtesten Fotos der Erde geworden.
Es zeigte einen Mann, der von einem Projektil direkt ins Herz getroffen wird. Er trägt eine dunkle Hose, ist barfuß und hat einen nackten Oberkörper. Der Aufprall der Kugel reißt ihn von den Füßen. Blut spritzt aus der Wunde. Aufgrund eines der Zufälle, die den Erfolg eines Kriegsreporters ausmachen, hatte das Objektiv den Mann mit ausgebreiteten Armen und überkreuzten Füßen eingefangen, sodass der Körper an die Gestalt Jesu am Kreuz erinnerte. Selbst das hagere Gesicht des Mannes mit den langen Haaren und dem Bartschatten entsprach der traditionellen Christus-Ikonografie. Der Titel des Fotos, Die zweite Passion, ergab sich praktisch von selbst.
» Irgendetwas hat mich gepackt, das ich nicht erklären kann. Neid auf diese Fähigkeit, auf so einfache Weise den Augenblick einzufangen. Wut. Ehrgeiz. Habgier vielleicht. Ich habe das Bild der New York Times angeboten und behauptet, ich hätte es geschossen. Den Rest kennst du. Ich bekam den Pulitzerpreis. Leider hatte der Bruder des Erschossenen gesehen, wie Robert das Foto gemacht hat, und hat den Zeitungen alles erzählt. Damit wusste jeder, dass es nicht von mir war.«
Er machte eine Pause, bevor er zu der Schlussfolgerung gelangte, die ihn Jahre seines Lebens gekostet hatte.
» Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich gar nicht mal sicher, ob ich das so schlimm fand.«
Aus einem Impuls heraus legte Vivien ihre Hand auf Russells Arm. Als es
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