Ich bin kein Berliner
zu fragen. Eine Woche später sah Berlin natürlich schon wieder ganz anders aus, nicht mehr so farbenfroh und laut. Wir sind aber trotzdem geblieben.
Inzwischen lebe ich schon sechzehn Jahre hier. Unser Haus befindet sich zwischen zwei großen Fußballfeldern, die an keinem einzigen Tag leer stehen. An sonnigen Tagen kann man die Fans sogar von unserem Balkon aus brüllen hören. Bei diesen Spielen geht es, so glaube ich, um die elfte Berliner Liga. Manchmal laufen kleine Kinder dem Ball hinterher, manchmal Rentner. Jede Grundschule, jeder Betrieb und jede Kneipe, die etwas auf sich hält, hat hier eine eigene Fußballmannschaft. Meine Stammkneipe zum Beispiel, in der sowieso nur Sportler, aber auch einige Künstler jobben, verlor neulich gegen »Ausgehende Lichter« aus Cottbus 0:9.
Ich weiß nicht, wie es in anderen europäischen Ländern ist, aber in Deutschland nimmt man den Fußball zu wichtig. Das Gesicht jedes Bundeslandes, jeder Stadt und jedes Bezirks ist sein FC. Die Menschen werden oft nach der Mannschaft bewertet, zu der sie stehen. Manchmal erwische ich auf meinen Lesereisen durch Deutschland eine grüne Welle der regionalen Fußballspiele und lebe tagelang das Leben eines Fußballfans, ohne einer zu sein: versperrte Bahnhöfe, Polizeistreifen, Glasscherben, Züge voller brüllender Fans in bunten Klamotten – jeden Tag in einer anderen Farbe.
Der deutsche Fußball bietet jedem etwas. Die Bürger haben die Möglichkeit entdeckt, ihren regionalen Patriotismus auszudrücken, ohne gleich als Rechte durchzugehen, und die Politiker sehen in ihm eine Chance, die Menschen von ihrer Politik abzulenken und den Laden zusammenzuhalten. Deswegen sind sie auch so fußballfreundlich. Der Exbundeskanzler zum Beispiel wusste genau, wann er im Fernsehen medienwirksam kicken musste. Wenn nichts mehr geht, die Arbeitslosigkeit steigt, die Presse meutert, die Wirtschaft stagniert, reicht manchmal ein einziges Tor, um alles wider ins Lot zu bringen. Sofort steigt der Gesellschaftsklima-Index um zweitausend Punkte.
Für die neue Kanzlerin ist es natürlich problematischer, im Fernsehen zu kicken. Sie hat die falschen Schuhe an. Aber auch sie wird am Fußball nicht vorbeikommen. Ich bin sicher, eines Tages bei der Abendshow unter dem Titel »Bundeskanzlerin trifft sich mit der deutschen Nationalmannschaft« steht auch Merkel medienwirksam im Tor.
Das Fußballfieber ist die graue Eminenz, die dieses Land heimlich regiert. Auch ich habe mich inzwischen angesteckt und schaue mir manchmal Fußballspiele an. Früher waren Sumokämpfe meine Lieblingssendungen bei Euro-Sport: Große dicke Männer drücken einander aus dem Ring und klopfen sich freundlich auf die Schenkel – alles Japaner beziehungsweise von Japan eingekaufte Mongolen. Aber dann kam plötzlich ein Georgier mit stark behaartem Körper. Sein japanischer Gegner verfing sich in seinen Bauchhaaren, ein falscher Schritt, und schon flog er raus. Niemand hatte so richtig bemerkt, was passiert war, trotzdem klatschten alle.
Fußball dagegen kam mir lange Zeit ziemlich zappelig vor. Die Sportler machen viel Lärm, die Fans sowieso, und dabei passiert stundenlang nichts Spannendes auf dem Feld. Mein persönliches Fußballfieber begann erst während eines Familienurlaubs auf Mallorca. Wir hatten ein Zimmer mit Meerblick in einem kinderfreundlichen Hotel gebucht. Aber wie es so oft bei diesen Reisekatalogen ist, hatten sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt. Zwischen dem Meer und unserem Balkon befand sich das Strandcafé Malibu. Dort saßen jeden Tag zweihundert Männer vor einer großen Leinwand und brüllten bis tief in die Nacht »Tooor!« oder »Ouhhh!«. Die Europameisterschaft war gerade im Gang, und jedes Mal, wenn Deutschland spielte, konnten wir nicht schlafen. Deutschland spielte oft und war nicht besonders erfolgreich.
»Wenn wir sowieso nicht schlafen, gucken wir uns doch die Spiele an«, beschlossen wir. Als die Spanier gegen die Russen spielten, war es relativ ruhig. Es gab kaum Spanier und außer uns nur einen Russen dort. Dafür bebte die Insel, als Deutschland gegen Holland antrat. Schon eine Stunde vor dem Spiel gab es im Malibu keinen freien Platz mehr. Wir hatten uns vorsorglich Plätze reserviert. Also, dieses Spiel, das muss ich sagen, war manchmal fast genauso spannend wie Sumoringen. Ich dachte, die Insel kippt um, als die Deutschen das erste Tor schossen. »Ballack!«, rief der Moderator immer wieder, »Kuranij!«, dazu skandierten alle noch
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