Ich bin kein Serienkiller
sehen, was sie tun. Das Töten ist immer noch der wichtigste Grund. Das Grundbedürfnis, das die Killer befriedigen wollen. Dieser Kerl hier funktioniert aber irgendwie anders. Ich verstehe es noch nicht ganz, aber da stimmt etwas nicht.«
»Wie war es bei John Wayne Gacy?«, fragte Neblin. »Er brachte Schwule um, weil er sie bestrafen wollte. Das ist doch ein Motiv.«
»Nur wenige Männer, die er tötete, waren tatsächlich schwul«, erwiderte ich. »Was haben Sie denn über ihn gelesen? Die Sache mit den Schwulen war kein Grund, sondern ein Vorwand. Er musste jemanden töten, und wenn er behauptete, Sünder zu bestrafen, dämpfte das seine Schuldgefühle.«
»Du regst dich jetzt aber sehr auf, John«, stellte Neblin fest. »Vielleicht sollten wir lieber aufhören.«
»Serienkiller haben gar keine Zeit, neugierige Reporter umzubringen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, Leute zu töten, die ihrem Opferprofil entsprechen: alte Männer, kleine Kinder, blonde Studentinnen, was auch immer«, erklärte ich. »Warum ist dieser hier anders?«
»John«, sagte Neblin.
Mir wurde schwindlig, als hyperventilierte ich. Dr. Neblin hatte recht, ich sollte aufhören. So holte ich tief Luft und schloss die Augen. Dazu war später noch Zeit. Trotzdem hatte ich einen Energieschub verspürt, und in den Ohren hatte ich ein Geräusch wie von fließendem Wasser. Dieser Killer war anders, er war etwas Neues.
Das Monster hinter der Mauer schnüffelte vernehmlich. Es hatte Blut gewittert.
SIEBEN
Vor dem Kino in der Stadt fiel mir der Streuner zum ersten Mal auf. In Clayton blieben hin und wieder Menschen hängen, die Arbeit, etwas zu essen oder eine Busfahrkarte in die nächste Stadt brauchten. Dieser hier war anders. Er bettelte nicht und sprach niemanden an, sondern beobachtete nur. So intensiv und so lange beobachtet niemand außer mir andere Menschen, und ich hatte schwere emotionale Probleme. Daher hielt ich es für ratsam, jemanden im Auge zu behalten, der mich an mich selbst erinnerte, denn er konnte gefährlich sein.
Meine Regeln verboten mir, ihn zu beschatten oder ihn auch nur aktiv zu suchen, aber ich sah ihn in den nächsten Tagen noch mehrmals. Er saß im Park und beobachtete die Kinder, die auf dem Parkplatz zwischen den Schneehaufen spielten, oder er stand rauchend in der Nähe der Tankstelle und sah den Leuten beim Tanken zu. Es kam mir so vor, als schätze er uns ein und arbeite eine Liste ab, die er sich eingeprägt hatte. Fast rechnete ich damit, dass die Polizei ihn aufgriff, aber er tat nichts Verbotenes. Er war einfach nur da. Die meisten Menschen – besonders wenn sie nicht zum Vergnügen Bücher über kriminologische Täterprofile lesen – hätten jemanden wie ihn einfach übersehen. Er besaß die Fähigkeit, sich auch an einem so überschaubaren Ort wie Clayton unauffällig unters Volk zu mischen, und die meisten Einwohner achteten überhaupt nicht auf ihn.
Als ein paar Tage später ein Einbruch gemeldet wurde, dachte ich zuerst an ihn. Er war wachsam und analytisch und hatte unseren Ort lange genug beobachtet, um zu wissen, bei wem sich ein Raubzug lohnte. Die Frage war bloß, ob er tatsächlich nur ein Einbrecher war oder ob mehr dahintersteckte. Ich wusste nicht, wie lange er sich bereits in der Stadt aufhielt. Wenn er schon eine Weile vorher gekommen war, dann konnte er womöglich der Clayton-Killer sein. Regeln hin oder her, ich musste herausfinden, was er im Schilde führte.
Es war, als stünde ich auf einer Klippe und wolle mich überwinden, hinunterzuspringen. Ich befolgte meine Regeln aus gutem Grund – sie halfen mir, alles zu vermeiden, was ich nicht tun durfte. Aber dies war doch eine ganz besondere Situation, oder etwa nicht? Er war gefährlich, und wenn ich ihn aufhalten konnte, indem ich eine Regel brach, die im Grunde sowieso nicht wichtig war, dann ging das doch in Ordnung. Ich tat etwas Gutes. So rang ich eine ganze Woche mit mir und kam schließlich zu dem Schluss, es sei letzten Endes besser, diese eine Regel zu brechen und den Streuner zu beschatten. Vielleicht rettete ich damit sogar jemandem das Leben.
Am Tag vor Thanksgiving musste ich nicht in die Schule. Obwohl Ted Rasks Leiche am Morgen in die Leichenhalle gekommen war, durfte ich meiner Mutter nicht helfen. Deshalb hatte ich den ganzen Tag frei. Ich fuhr in die Stadt und kurvte eine Stunde herum, bis ich ihn fand. Er saß vor Allmans Haushaltswaren auf der Bank der Bushaltestelle. Ich ging auf der anderen
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