Ich bin kein Serienkiller
besuchten Abschnitt des Sees, wo die Böschung zwischen der Straße und dem Ufer nicht ganz so steil ist und man auf einer Lichtung direkt bis ans Wasser gelangt. Von Mr Crowley und seinem gefährlichen Begleiter war nichts zu sehen. Auch sonst befand sich niemand in der Nähe. Wir hatten den See tatsächlich für uns allein. Ich versteckte mein Fahrrad auf der Südseite der Lichtung in einer Schneewehe und hockte mich in eine kleine Baumgruppe im Norden. Wenn Mr Crowley tatsächlich angeln wollte, dann musste er hier vorbeikommen. Wie er gesagt hatte, war der See zugefroren, und auf dem Eis lag feinkörniger Schnee. Auf der anderen Seite erhob sich ein kleiner Hügel, der nur im Kontrast zum flachen See groß wirkte. Der Wind fegte über das Eis und die Erhebung hinweg, riss den Schnee in Spiralen hoch und erzeugte winzige Tornados. Ich kauerte frierend im Schatten, während der Wind Fratzen in die Luft malte.
Der Natur ausgesetzt zu sein – ob Kälte, Hitze oder Wasser –, ist die demütigendste Art zu sterben. Gewalt ist leidenschaftlich und real – in den letzten Augenblicken, wenn man ums Leben kämpft, eine Pistole abfeuert, mit einem Räuber ringt oder um Hilfe ruft, schlägt das Herz rasend schnell, und der Körper kribbelt vor Energie. Man ist hellwach und bei Sinnen und fühlt sich in diesem kurzen Moment lebendiger denn je. Draußen in der freien Natur sieht alles ganz anders aus.
Wenn man hilflos den Elementen ausgeliefert ist, geschieht das Gegenteil. Der Körper wird langsamer, der Gedankenfluss wird zäh, und man erkennt, dass man eine Maschine ist. Der Körper ist voller Röhren, Ventile und Motoren, es gibt elektrische Signale und Hydraulikpumpen, die nur unter den richtigen Bedingungen funktionieren. Wenn die Temperatur zu stark sinkt, bricht die Maschine zusammen. Die Zellen gefrieren und platzen, die Muskeln brauchen immer mehr Energie und leisten immer weniger, das Blut fließt zu langsam und in die falschen Körperteile. Die Wahrnehmung lässt nach, die Körpertemperatur sinkt, und das Gehirn sendet Signale aus, denen der Körper aus Schwäche oder weil er sie nicht mehr versteht, nicht mehr folgen kann. In diesem Zustand ist man kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Fehlfunktion – eine Maschine ohne Öl, die sich knirschend selbst zerstört, während sie vergeblich versucht, die letzten sinnlosen Befehle auszuführen.
Nach einer Weile näherte sich ein Auto, das tatsächlich auf der Lichtung anhielt. Ich wandte den Kopf ein wenig und beobachtete alles aus den Augenwinkeln, ohne mein Versteck zu verlassen. Es war Crowleys weißer Buick. Der Streuner stieg zuerst aus und starrte finster zum See, dann öffnete sich die andere Tür, und Crowley hustete.
»Ich war seit ewigen Zeiten nicht mehr beim Eisangeln«, erklärte der Fremde. »Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben.«
»Kein Problem.« Mr Crowley trat zum Kofferraum und reichte dem Fremden eine Angelrute, einen Eimer mit Zubehör, Netze, einen Eisbohrer und zwei Klappstühle. Dann drückte er die Kofferraumhaube zu. »Ich habe vorsichtshalber alles doppelt«, erklärte er lächelnd. »Wir haben auch genug heiße Schokolade, damit wir es warm und gemütlich haben.«
»Ich bin noch vom Essen ganz satt«, sagte der Streuner. »Machen Sie sich keine Umstände.«
»Hier draußen sind wir Partner«, sagte Crowley. »Was mein ist, ist auch dein und umgekehrt.« Er grinste.
»Was mein ist, ist auch dein«, wiederholte der Fremde, und ich spürte, wie die Gefahr zunahm. Was tat Crowley da nur? Es war gefährlich, einfach so einen Fremden mitzunehmen, selbst wenn man sich nicht mitten in der Nacht in einer einsamen Gegend befand oder wenn kein Triebtäter frei herumlief.
Ich betrachtete die Hände des Streuners, ob dort etwa Krallen wuchsen, doch sie sahen aus wie ganz normale Hände. Vielleicht war er doch nicht der Killer. Wie auch immer, ich kam fast um vor Neugierde. Falls er aber wirklich der Mörder war, wollte ich sehen, wie er es anstellte.
Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich ihn und machte mir Gedanken über mich selbst. War es mir wirklich wichtiger, den Killer zu beobachten, als Crowley das Leben zu retten? Das durfte eigentlich nicht sein. Wäre ich ein gesund empfindender, mitfühlender Mensch gewesen, dann wäre ich aufgesprungen und hätte Crowley das Leben gerettet. Aber ich war es nicht.
Also sah ich zu.
Mr Crowley lief vorsichtig den Abhang zum Ufer hinunter, und der Fremde folgte ihm dichtauf. Ich kauerte
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