Ich bin kein Serienkiller
Serienmörder zu etwas zu machen, das sie nicht sind«, erwiderte Neblin. »Du willst, dass sie irgendeine besondere Bedeutung haben.«
Darauf schwieg ich verdrossen. Draußen fuhren langsam die Autos auf der mit dünnem Eis überzogenen Straße entlang. Ich hoffte, eines von ihnen würde einen Fußgänger rammen.
»Hast du gestern Abend die Nachrichten gesehen?«, fragte Neblin. Er wollte mich zum Reden bringen, indem er mein Lieblingsthema anschnitt. Ich schwieg jedoch und starrte aus dem Fenster.
»Es kommt mir ein wenig seltsam vor«, antwortete er. »Der Reporter verkündete, er habe einen Hinweis auf den Mörder gefunden, und nur anderthalb Stunden später stirbt er, noch ehe er Gelegenheit hatte, diesen Hinweis zu offenbaren. Es kommt mir so vor, als habe er tatsächlich eine Spur gefunden.«
Hervorragende Arbeit, Sherlock. In der Nachrichtensendung um zehn hatte man genau die gleiche Schlussfolgerung verbreitet.
»Ich will nicht darüber reden«, antwortete ich.
»Vielleicht sollten wir dann über Rob Anders sprechen«, schlug Neblin vor.
Ich drehte mich wieder zu ihm herum. »Ich wüsste wirklich gern, wer Ihnen das erzählt hat.«
»Gestern rief mich die Schulpsychologin an«, erklärte Neblin. »Soweit ich weiß, sind sie und ich die Einzigen, mit denen er gesprochen hat. Er hat deinetwegen Albträume.«
Ich lächelte.
»Das ist nicht lustig, John. Das ist ein Zeichen von Aggression.«
»Rob ist ein Rowdy«, antwortete ich. »Das ist er schon seit dem dritten Schuljahr. Wenn Sie Zeichen von Aggression sehen wollen, dann beobachten Sie ihn doch mal ein paar Stunden lang.«
»Aggressionen sind bei Fünfzehnjährigen normal«, wandte Neblin ein, »ob er nun ein Rowdy ist oder nicht. Sorgen mache ich mir aber, wenn ein soziopathischer Fünfzehnjähriger aggressiv wird, der zudem vom Tod besessen ist – und zwar ganz besonders deshalb, weil du bisher geradezu ein Vorbild an Konfliktvermeidung warst. Wie ist diese Veränderung zu erklären, John?«
»Nun ja, in der Stadt läuft ein Serienkiller herum, der Körperteile von Leichen stiehlt. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, es kam in den Nachrichten.«
»Hat dich die Gegenwart eines Mörders in der Stadt beeinflusst?«
Hinter der Mauer regte sich das Monster.
»Das ist sehr nahe«, erklärte ich. »Näher, als jeder Mörder, den ich studiert habe. Ich lese Bücher, suche im Internet und lese über Serienmörder, weil … nun ja, nicht zum Vergnügen, aber … Sie wissen schon. Die sind allerdings alle weit weg. Sie existieren wirklich, und gerade weil sie existieren, finde ich sie so faszinierend, aber … aber wir sind hier weit vom Schuss. Die Mörder sollten irgendwo anders real sein. Nicht hier.«
»Fürchtest du dich vor dem Mörder?«
»Ich habe keine Angst, dass er mich töten könnte«, erwiderte ich. »Bisher waren die Opfer drei erwachsene Männer, und ich nehme an, dass er sich an dieses Profil halten wird. Das bedeutet, dass mir so wenig etwas geschehen wird wie Mom, Margaret und Lauren.«
»Was ist mit deinem Vater?«
»Mein Vater lebt nicht hier«, erklärte ich. »Ich weiß nicht einmal, wo er sich gerade aufhält.«
»Aber du änstigst dich um ihn?«
»Nein«, antwortete ich langsam. Das entsprach der Wahrheit, doch da gab es noch etwas, das wollte ich ihm nicht sagen, und mir war klar, dass er es bemerkt hatte.
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn du nicht darüber reden willst, dann lassen wir es«, sagte Neblin.
»Und wenn wir müssen?«, fragte ich.
»Dann reden wir.«
Manchmal sind Therapeuten so sehr nach allen Seiten offen, dass sie fast nicht mehr vorhanden sind. Ich starrte ihn eine Weile an, überlegte das Für und Wider der Unterhaltung, die gleich beginnen würde, und entschied schließlich, dass es nicht schaden konnte.
»Letzte Woche habe ich geträumt, mein Dad sei der Killer«, sagte ich.
Neblin reagierte nicht. »Was hat er getan?«
»Ich weiß nicht, er hat mich nicht einmal besucht.«
»Wolltest du denn, dass er dich mitnimmt, wenn er jemanden tötet?«, fragte Neblin.
»Nein.« Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. »Ich … ich wollte, dass er bei mir ist, damit er niemanden mehr tötet.«
»Was ist dann geschehen?«
Ich wollte nicht erzählen, was danach geschehen war, obwohl ich das Thema zur Sprache gebracht hatte. Es war widersprüchlich, aber so was passiert eben, wenn man davon träumt, den eigenen Vater zu töten. »Können wir über
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