Ich bin kein Serienkiller
wohlüberlegt durchzuführen. Vielleicht hatte er den Mann in Arizona gar nicht getötet, oder der Mord dort war anders verlaufen und hatte ihn nicht auf die neuen Taten vorbereiten können.
»John«, sagte Mrs Crowley, »wir sind dir wirklich dankbar für alles, was du für uns tust. In den letzten Wochen können wir uns ja kaum noch umdrehen, ohne festzustellen, wie sehr du uns hilfst.«
»Ach, das ist doch nicht der Rede wert«, wehrte ich ab.
»Unsinn«, widersprach sie. »Es ist der schlimmste Winter seit vielen Jahren, und wir sind zu alt, um allein zurechtzukommen. Du hast ja gesehen, wie es mit Bills Gesundheit auf und ab geht. Und jetzt so etwas. Du liebes bisschen, es ist schon gut zu wissen, dass unsere Nachbarn auf uns aufpassen.«
»Wir haben keine eigenen Kinder«, erklärte Mr Crowley, »aber du bist für uns praktisch so etwas wie ein Enkelsohn. Vielen Dank.«
Ich starrte die beiden an und erkannte die Dankbarkeit, die ich von ihnen gewohnt war – sie lächelten, hielten sich bei den Händen, Mrs Crowley hatte Tränen in den Augen. Bei ihr erwartete ich nichts als Aufrichtigkeit, aber sogar Mr Crowley schien gerührt. Ich hob die Schaufel und begann damit, die Treppe zu räumen.
»Es macht mir wirklich nichts aus«, murmelte ich.
»Du bist so ein lieber Junge«, antwortete Mrs Crowley, und dann gingen sie wieder nach drinnen.
Irgendwie fand ich es gar nicht so unpassend, dass der einzige Mensch, der mich für einen lieben Jungen hielt, mit einem Dämon zusammenlebte.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, Wege und Zufahrt der Crowleys freizuschaufeln und mir zu überlegen, wie ich Mr Crowley töten konnte. Immer wieder kamen mir ungebeten meine Regeln in den Sinn – sie waren so tief in mir verankert, dass sie nicht kampflos aufgaben. Ich malte mir verschiedene Tötungsarten aus und dachte gleich wieder etwas Nettes über ihn. Im Kopf ging ich seine alltäglichen Gewohnheiten durch und wich sofort auf andere Themen aus. Zweimal hörte ich sogar mit Schaufeln auf und war drauf und dran, nach Hause zu gehen. Instinktiv wollte ich verhindern, dass ich mich zu sehr festbiss. Meine alten Regeln hätten mir vorgeschrieben, Mr Crowley eine ganze Woche lang zu meiden, wie ich es bei Brooke getan hatte, doch jetzt hatte sich die Situation verändert, und die Regeln mussten weichen. Ich hatte mich jahrelang selbst trainiert, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen, damit keine zu starken Bindungen entstanden, doch diese Barrieren störten jetzt nur. Alle hemmenden Mechanismen mussten abgeschaltet, weggeschoben oder aufgehoben werden.
Zuerst war es unheimlich. Als säße man ganz still und sähe zu, wie eine Küchenschabe am Fuß und am Bein hochklettert und unter dem Hemd verschwindet, ohne dass man die Hand hebt und sie wegwischt. Ich stellte mir vor, ich sei mit Küchenschaben, Spinnen, Egeln und so weiter bedeckt, die sich wanden, forschten, kosteten, und ich musste ganz still bleiben und mich an sie gewöhnen. Ich musste Mr Crowley töten (eine Made kroch mir übers Gesicht), ich wollte es sogar (eine Made kroch mir in den Mund), ich wollte ihn aufschneiden (ein Schwarm Maden kroch mir über den Körper, bis ich darunter verschwand) …
Ich spuckte sie aus und kehrte schaudernd in die Gegenwart zurück, in der ich auf dem Gehweg stand und Schnee schaufelte. Es würde eine Weile dauern, mich umzustellen.
»John, komm doch rein und trink eine Schokolade!«, rief Mr Crowley durch die geöffnete Tür heraus. Ich schippte die restlichen paar Meter des Gehwegs frei und ging hinein, um höflich lächelnd am Küchentisch Platz zu nehmen und mich zu fragen, ob man ihn überhaupt aufschneiden konnte. Ich erinnerte mich an den Spalt in seinem Bauch, als er dem Streuner die Lungen gestohlen und sich danach wieder versiegelt hatte wie einen Tiefkühlbeutel. Er konnte sich selbst heilen, nachdem er eine Menge Pistolenkugeln eingefangen hatte. Lächelnd trank ich Schokolade und fragte mich, ob er auch den Kopf nachwachsen lassen konnte.
Dunkle Gedanken füllten den Rest des Tages, während ich nacheinander alle meine Regeln umstieß. Als ich am nächsten Morgen in die Schule ging, fühlte ich mich ausgemergelt und hatte Angst – wie ein neuer Mensch in einem alten Körper, der nicht richtig zu ihm passte. Die Mitschüler warfen mir kurze Blicke zu und beachteten mich wie üblich nicht weiter, doch es waren neue Augen, mit denen ich Blicke erwiderte. Ein neuer Geist betrachtete aus meiner alten
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