Ich bin kein Serienkiller
zu einem anderen ginge. Niemand lachte darüber. Dr. Neblin hätte sicher gelacht.
Bis zum Morgen hatte die Geschichte stark verändert die Runde gemacht: Der Clayton-Killer hatte Bill Crowley getötet, als dieser spätabends noch unterwegs gewesen war, und auf dem Weg zu Crowleys Haus auch noch Ben Neblin umgebracht. Im Haus hatte der Killer dann Kay geschlagen und gequält, bis ihre Nachbarn – Mom und ich – bemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte, und den Mörder gestört hatten. Als Nächstes war er auf uns losgegangen, aber fortgelaufen, weil wir uns gewehrt hatten. Außer dem schwarzen Kleister, der schon bei den anderen Opfern gefunden worden war, hatte er nichts zurückgelassen. Niemand glaubte, dass der Killer ein Monster gewesen war und sich aufgelöst hatte, also schenkten wir uns entsprechende Erklärungen, wenn Nachbarn oder Reporter uns fragten.
In der Geschichte gab es natürlich genügend ungeklärte Einzelheiten, um die Gerüchte hochkochen zu lassen. Bislang hatte man ja weder Crowleys Leiche noch die des Mörders gefunden, weshalb beide noch am Leben sein konnten. Ich allerdings wusste, dass wir das Schlimmste überstanden hatten. Zum ersten Mal seit Monaten war ich völlig ruhig.
Wahrscheinlich wäre ich stärker in Verdacht geraten, wenn Kay sich nicht als meine standhafteste Fürsprecherin erwiesen hätte. Sie schwor der Polizei, ich sei ein guter Junge und ein guter Nachbar, und wir stünden einander nahe wie enge Verwandte. Als man meine Wimpern in ihrem Bad fand, erzählte sie, ich hätte Mr Crowley mit den Türrahmen geholfen. Als man meine Fingerabdrücke auf der Windschutzscheibe entdeckte, berichtete sie, ich hätte das Öl gewechselt und den Reifendruck überprüft. Alle Fragen, die man nur stellen konnte, wurden dadurch beantwortet, dass ich zwei Monate lang fast jeden Tag bei ihnen drüben gewesen war. Der einzige gefährliche Beweis waren die Handys, die bisher aber niemand gefunden hatte.
Abgesehen von alledem war ich sowieso bloß ein Junge. Ich glaube, sie zogen mich niemals ernsthaft als Verdächtigen in Betracht. Hätte ich zu vertuschen versucht, was in jener Nacht geschehen war, dann wäre ich viel stärker in Verdacht geraten, aber da wir uns direkt an die Polizei gewandt hatten, genossen wir wohl ein wenig Vertrauen. Nach einer Weile war es so, als wäre alles nie geschehen.
Ich hatte damit gerechnet, dass mir der Tod des Dämons stärker zu schaffen machen würde – dass er mich bis in meine Träume verfolgen würde oder so –, aber ich dachte vor allem über seine letzten Worte nach: »Vergiss mich nicht«. Ich war nicht sicher, ob ich ihm diesen Wunsch erfüllen konnte. Er war ein böser, schrecklicher Mörder gewesen, und über manches wollte ich nie wieder nachdenken.
Es gab sogar eine ganze Menge Dinge, über die ich nicht nachdenken wollte und über die ich schon seit Jahren nicht mehr nachgedacht hatte. Allerdings hatte es überhaupt nichts gebracht, sie auszublenden. Es war wohl an der Zeit, Crowleys Ratschlag zu befolgen und mein Gedächtnis zu bemühen. Als die Polizei sie endlich in Ruhe ließ, ging ich hinüber und besuchte Kay Crowley.
Sie umarmte mich gleich an der Tür. Kein Wort, kein Gruß, nur die Umarmung. Obwohl ich es nicht verdient hatte, erwiderte ich die Umarmung. Das Monster knurrte, doch ich verscheuchte es mit einem scharfen Blick. Es erinnerte sich an diese gebrechliche Frau und wusste, wie leicht man sie töten konnte. Ich rang mit aller Kraft um meine Selbstbeherrschung. Es war viel schwerer, als ich zugeben will.
»Danke, dass du gekommen bist.« In ihren Augen schimmerten Tränen. Rechts hatte sie sogar noch ein blaues Auge. Mir wurde fast schlecht.
»Es tut mir so leid.«
»Nicht doch, mein Lieber«, sagte sie und zog mich ins Haus. »Du wolltest nur helfen.«
Ich betrachtete ihr Gesicht und ihre Augen aus der Nähe. Das war der Engel, der einen Dämon gezähmt hatte. Die Seele, die ihn gefangen genommen und mit einer Kraft festgehalten hatte, der er vorher noch nie ausgesetzt gewesen war. Liebe. Sie bemerkte mein Starren und erwiderte meinen Blick.
»Was ist los, John?«
»Erzählen Sie mir von ihm«, bat ich sie.
»Von Bill?«
»Bill Crowley«, sagte ich. »Ich habe mein ganzes Leben lang auf der anderen Straßenseite gewohnt, aber ich glaube, ich habe ihn überhaupt nicht richtig gekannt. Bitte erzählen Sie mir etwas über ihn.«
Nun war es an ihr, mich zu beäugen – mit Augen so tief wie Brunnen beobachtete sie
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