Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
eine Rechtfertigung hatte, gegen die muslimische Welt in den Krieg zu ziehen. In einigen Zeitungen bei uns stand zu lesen, dass an dem Tag kein einziger Jude ins World Trade Center zur Arbeit gekommen sei. Mein Vater sagte, das sei Blödsinn.
Musharraf erzählte unserem Volk, er hätte keine andere Wahl, als mit den Amerikanern zu kooperieren. Ihr Außenminister Colin Powell hatte gesagt: »Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid gegen uns.« Außerdem betonte Musharraf, die Amerikaner hätten damit gedroht, uns zurück in die Steinzeit zu bomben, wenn wir uns gegen sie stellten.
Eine wirkliche Kooperation war es allerdings nicht, denn der Geheimdienst ISI versorgte die Kämpfer der Taliban noch immer mit Waffen und gewährte ihren Anführern in Quetta Zuflucht. Sie brachten die Amerikaner sogar dazu, Hunderte von pakistanischen Kämpfern aus Nordafghanistan ausfliegen zu lassen. Der Chef des ISI bat die Amerikaner auch, mit ihrem Angriff auf Afghanistan zu warten, bis er nach Kandahar gereist war, um den Taliban-Führer Mullah Omar aufzufordern, Bin Laden auszuliefern. In Wirklichkeit bot er den Taliban seine Hilfe an.
In unserer Provinz sprach der Maulana Sufi Muhammad, der in Afghanistan gegen die Russen gekämpft hatte, eine Fatwa gegen die USA aus. Er hielt in der Region Malakand, wo unsere Vorfahren gegen die Briten gekämpft hatten, eine große Versammlung ab. Die pakistanische Regierung verhinderte diese nicht. Und der Gouverneur unserer Provinz veröffentlichte eine Bekanntmachung, die besagte, dass jeder, der gegen die NATO kämpfen wolle, seinem Wunsch nachkommen dürfe. Ungefähr 12000 junge Männer aus dem Swat-Tal machten sich auf, um den Taliban beizustehen. Viele von ihnen kamen nie zurück. Sie wurden wahrscheinlich getötet, aber weil es keine Sterbeurkunden gibt, kann man ihre Frauen nicht zu Witwen erklären. Es ist sehr schwer für sie. Auch Bruder und Schwager von Wahid Zaman – Wahid Zaman ist ein enger Freund meines Vaters – gehörten zu jenen, die nach Afghanistan gingen. Ihre Frauen und Kinder warten heute noch auf sie. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir sie besuchten, vor allem an ihre Sehnsucht nach den Vermissten.
Trotzdem schien all das weit weg zu sein von unserem friedlichen Gartental. Eigentlich ist Afghanistan nicht einmal 150 Kilometer entfernt, aber man muss durch das Bajaur, eines der Stammesgebiete an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan.
Bin Laden und seine Männer flohen nach Tora Bora in den Weißen Bergen im Osten Afghanistans, wo er schon damals, im Kampf gegen die Russen, ein weitverzweigtes System aus Tunneln und Höhlen hatte anlegen lassen. Sie konnten durch die Tunnel flüchten und über die Berge nach Kurram gelangen, ein weiteres Stammesgebiet. Was wir damals nicht wussten, war, dass Bin Laden ins Swat kam und ein Jahr lang in einem abgelegenen Dorf lebte. Er nutzte die Gastfreundschaft der Paschtunen aus, die von uns verlangt, jeden Gast zu schützen.
Es war offensichtlich, dass Musharraf mit den Amerikanern ein doppeltes Spiel trieb. Er nahm ihr Geld, unterstützte aber weiter die Dschihadisten – beziehungsweise unsere »strategischen Aktivposten«, wie unser militärischer Geheimdienst sie nennt. Die Amerikaner behaupten, sie hätten uns Milliarden gegeben, damit wir ihren Feldzug gegen al-Qaida unterstützten. Wir haben davon nicht einen Cent gesehen. Musharraf hingegen baute sich ein luxuriöses Haus am Rawalsee in Islamabad und kaufte sich eine Wohnung in London. Hin und wieder klagte ein ranghoher US -Offizier, wir täten nicht genug, um Amerika zu unterstützen, und siehe da: Ein dicker Fisch ging ins Netz. Khalid Scheich Mohammad, der Kopf hinter den Anschlägen vom 11 . September, wurde in einem Haus entdeckt, das nur etwa eineinhalb Kilometer vom offiziellen Sitz des Oberbefehlshabers der Armee in Rawalpindi entfernt lag.
Doch Präsident Bush hörte trotzdem nicht auf, Musharraf zu preisen. Als er ihn nach Washington eingeladen hatte, bezeichnete er ihn als seinen
Buddy.
Mein Vater und seine Freunde waren angewidert. Sie meinten, die Amerikaner hätten es in Pakistan am liebsten mit Diktatoren zu tun.
Ich interessierte mich schon als Kind für Politik und saß bei den Gesprächen auf dem Schoß meines Vaters. Mit gespitzten Ohren hörte ich ihnen zu, wenn sie diskutierten. Aber natürlich beschäftigte ich mich selbst eher mit näherliegenden Dingen, mit unserer eigenen Straße, um genau zu sein. Meinen Freundinnen in der
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