Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
liebst. Das ist meine Nummer. Ruf mich an.«
Den Brief gab ich meinem Vater, der darüber sehr wütend wurde. Er rief Harun zu sich und sagte ihm, dass er alles seinem Vater mitteilen würde. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Danach hörten die Jungs auf, in unserer Straße herumzuhängen.
Nur einer der kleineren Jungen, mit denen Atal spielte, rief immer mal anzüglich, wenn ich vorbeiging: »Wie geht’s denn Harun?« Das ärgerte mich so, dass ich Atal eines Tages befahl, den Jungen ins Haus zu bringen. Da habe ich ihn dermaßen angebrüllt, dass er damit aufhörte.
Sobald Moniba und ich uns wieder vertrugen, erzählte ich ihr, was geschehen war. Sie selbst war immer sehr vorsichtig, was den Kontakt mit Jungen betraf. Sie wusste, dass ihre Brüder höllisch aufpassten. »Manchmal finde ich, es ist einfacher, ein Vampir in
Twilight
zu sein, als ein Mädchen im Swat«, seufzte ich. Doch in Wirklichkeit wünschte ich mir, dass ich keine schlimmeren Probleme hätte als die, dass ein Junge mir zu dicht auf die Pelle rückte.
20
Wer ist Malala?
E ines Spätsommermorgens, als mein Vater sich für die Schule fertig machte, fiel ihm auf, dass das Gemälde, auf dem ich in den Himmel schaue (das Bild, das wir von der Schule in Karachi geschenkt bekommen hatten), über Nacht verrutscht war. Mein Vater liebte es. Es hing immer über seinem Bett. Dass es da so schief hing, störte ihn. »Bitte, rück es wieder gerade«, sagte er in ungewöhnlich heftigem Ton zu meiner Mutter.
In derselben Woche kam dann unsere Mathelehrerin, Miss Shazia, völlig aufgelöst in die Schule. Sie erzählte meinem Vater, sie hätte einen Alptraum gehabt. Ich sei mit einem völlig verbrannten Bein in der Schule erschienen, und sie hätte versucht, die Wunde zu verbinden. Sie bat ihn, den Armen etwas gekochten Reis zu spenden. Wir glauben nämlich, dass auch die Ameisen und Vögel, die die Körner fressen, die zu Boden fallen, für uns beten werden. Mein Vater gab aber stattdessen Geld, was Miss Shazia nicht gefiel. Sie meinte, das sei einfach nicht dasselbe.
Zu Hause lachten wir über Miss Shazias Vorahnungen, aber bald darauf hatte auch ich Alpträume.
Ich erzählte meinen Eltern nichts davon, aber sobald ich einen Schritt aus dem Haus tat, überkam mich die Angst, ein bewaffneter Taliban könnte mich überfallen und mir Säure ins Gesicht schütten, wie sie es mit Frauen in Afghanistan gemacht hatten. Vor allem die Stufen, die von der Hauptstraße zu unserer Wohnstraße hinaufführten und wo die Jungs immer herumhingen, jagten mir Furcht ein. Manchmal glaubte ich, Schritte hinter mir zu vernehmen oder Gestalten zu sehen, die sich in die Schatten drückten.
Anders als mein Vater traf ich meine Vorkehrungen. Nachts wartete ich, bis alle schliefen. Dann überprüfte ich sämtliche Türen und Fenster, ob sie auch geschlossen waren. Ich ging hinaus und kontrollierte das vordere Tor. Dann untersuchte ich die Räume, einen nach dem anderen. Die Vorhänge in meinem Zimmer zog ich aber immer noch nicht zu, denn ich wollte alles sehen können. Mein Vater riet mir ständig, sie zuzuziehen. »Wenn sie mich töten wollen, hätten sie das 2009 schon machen können«, antwortete ich jedes Mal. Aber ich hatte dennoch Angst. Ich hatte Angst, jemand könne mit einer Leiter über die Mauer steigen und eines der Fenster einschlagen.
Dann betete ich, nachts besonders. Die Taliban denken, dass wir keine Muslime sind, doch das stimmt nicht. Wir glauben mehr an Gott als sie, und wir vertrauen darauf, dass er uns beschützt. Ich sprach oft das
Ayat al kursi,
das man auch »Thronschemel« nennt, es sind dies Verse aus der zweiten Koransure, aus dem Kapitel von der Kuh. Das Kursi wiederum ist ein ganz besonderer Vers. Wir glauben nämlich, dass unser Haus vor
Shayatin
oder Dämonen geschützt ist, wenn man ihn in der Nacht dreimal spricht. Tut man dies fünfmal, so ist die ganze Straße unter seinem Schutz, beim siebten Mal legt sich sein Schutz über die gesamte Nachbarschaft.
Also sprach ich das Kursi jede Nacht siebenmal und öfter und schloss mit einer Bitte an Gott: »Bitte segne uns, zuerst unsere Mutter und Familie, dann unsere Straße, dann unsere Mohalla und das ganze Swat.« Danach fügte ich noch hinzu: »Nicht nur die Muslime, nein. Segne alle Menschen.«
Am meisten betete ich, wenn Prüfungen anstanden. Dann sprachen meine Freundinnen und ich wirklich alle fünf Gebete am Tag, so wie meine Mutter es gern gehabt hätte. Am schwersten fiel es
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