Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
das Telefon nicht mehr still. Alle möglichen Leute riefen an, um meinen Vater zu alarmieren, er würde der Nächste sein. Hidayatullah war einer der Ersten. »Um Gottes willen, sei bloß vorsichtig«, warnte er. »Das hättest auch du sein können. Sie knallen die Mitglieder des Ältestenrats doch einen nach dem anderen ab. Du bist ihr Sprecher – wieso sollten sie dich am Leben lassen?«
Mein Vater war auch davon überzeugt, dass die Taliban ihn jagen und ermorden würden, doch wieder lehnte er jeden Polizeischutz ab. »Wenn man sich mit vielen Leibwächtern umgibt, nehmen die Taliban Kalaschnikows oder schicken Selbstmordattentäter. Dann werden noch mehr Menschen getötet«, sagte er. »So kommt wenigstens nur einer ums Leben.«
Bislang war er nicht bereit, abermals das Swat zu verlassen. »Wo soll ich denn hin?«, fragte er meine Mutter. »Ich kann nicht weg von hier. Ich bin der Präsident des Global Peace Council, der Sprecher des Ältestenrats, der Präsident des Verbands der Privatschulen im Swat, Direktor meiner Schule und Kopf meiner Familie.«
Die einzige Vorsichtsmaßnahme, die mein Vater traf, war, von seinem gewohnten Tagesablauf etwas abzuweichen. Einmal ging er als Erstes zur Grundschule, am nächsten Tag zur Mädchenschule, tags darauf zur Jungenschule – in einem ständigen Wechsel. Aber wohin er auch ging, mir fiel auf, dass er die Straße vor unserem Haus vier-, fünfmal nach allen Seiten hin absuchte.
Trotz der Risiken blieben mein Vater und seine Freunde weiterhin sehr aktiv. Sie organisierten Protestveranstaltungen und Pressekonferenzen. Immer wieder fragten sie: »Warum wurde Zahid Khan angegriffen, wenn wir doch Frieden haben? Wer ist für den Angriff verantwortlich? Seit unserer Zeit als Binnenflüchtlinge gab es keine Angriffe auf Armee oder Polizei. Die einzigen Ziele sind heute Friedensaktivisten und Zivilpersonen.«
Über derartige Äußerungen zeigte sich der örtliche Armeekommandant wenig erfreut. »Ich sage Ihnen, in Mingora gibt es keine Terroristen«, behauptete er mit Nachdruck. »Das geht aus unseren Berichten hervor.« Er war der Ansicht, Zahid Khan sei angeschossen worden, weil er in private Eigentumsstreitigkeiten verwickelt sei.
Zahid Khan lag zwölf Tage im Krankenhaus und brauchte nach der plastischen Operation an seiner Nase noch einen Monat zu Hause, um sich von alldem zu erholen. Aber er wollte nicht schweigen. Er wurde sogar noch angriffslustiger. Er wandte sich vor allem gegen den Geheimdienst, weil er glaubte, dieser stehe hinter den Taliban. Er schrieb Kommentare für Zeitschriften, in denen er die Meinung vertrat, der Konflikt im Swat sei künstlich herbeigeführt worden. »Ich weiß, wer auf mich gezielt hat. Was wir jedoch wissen müssen, ist, wer diese Leute auf uns hetzt«, hieß es in einem seiner Beiträge. Er forderte, dass der Präsident des Obersten Gerichtshofs eine Kommission einberufen müsse, die untersuchen solle, wie die Taliban in unser Tal gekommen waren. Er machte eine Skizze von seinem Angreifer und meinte, man müsse ihn aufhalten, bevor er jemand anderen erschießen könne. Doch die Polizei tat natürlich nichts, um den Mann zu finden.
Nach den Drohungen gegen mich wollte meine Mutter nicht, dass ich zu Fuß durch die Gegend lief. Sie bestand darauf, dass ich zur Hinfahrt eine Rikscha, für den Rückweg den Schulbus nahm, obwohl es von der Schule nach Hause nur ein Fußmarsch von fünf Minuten war.
Der Bus setzte mich immer an den Stufen ab, die zu unserer Straße führten. Dort hingen immer ein paar Jungs aus der Nachbarschaft herum. Manchmal war auch Harun unter ihnen. Er war ein Jahr älter als ich und lebte in unserer Straße. Als Kinder hatten wir zusammen gespielt. Später hatte er mir gestanden, er sei verliebt in mich. Aber dann bekam unsere Nachbarin Safina Besuch von ihrer hübschen Kusine, und er verliebte sich augenblicklich in sie. Als Safina ihm sagte, sie sei nicht interessiert an ihm, wandte er sich wieder mir zu. Danach zog die Familie in eine andere Straße, und wir übernahmen ihr Haus. Harun besuchte dann die Kadettenschule der Armee.
In den Ferien durfte er nach Hause, und eines Tages, ich kam gerade von der Schule zurück, stand er dort wieder auf der Straße. Er folgte mir zu unserem Haus und steckte eine Nachricht so ans Tor, dass ich sie sehen konnte. Ich bat ein kleines Mädchen, sie für mich zu holen. Er schrieb: »Du bist jetzt sehr berühmt. Ich liebe dich immer noch, und ich weiß, dass auch du mich
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