Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
Wasser hatte die Brücke schon überspült, so dass wir uns einen anderen Heimweg suchen mussten. Die nächste Brücke, die wir fanden, stand zwar auch unter Wasser, aber nicht so stark. Also wateten wir hinüber, das Wasser roch faulig. Als wir zu Hause ankamen, waren wir völlig durchnässt und schmutzig.
Am nächsten Tag hörten wir, die Schule sei überflutet worden. Es dauerte dann Tage, bis das Wasser abfloss. Als wir sie wieder betreten konnten, sahen wir, wie hoch es gestanden hatte. Alles, wirklich alles lag unter einer dicken Schlammschicht. Unsere Tische und Stühle waren regelrecht in diesem Schlick versunken, und es roch widerlich. Die Aufräumarbeiten kosteten meinen Vater 90000 Rupien – so viel, wie 90 Schüler bei uns monatlich Schuldgeld bezahlen.
Ganz Pakistan war betroffen. Der mächtige Indusstrom, der vom Himalaya über die KPK und den Punjab herabkommt, um dann nach Karachi und ins Arabische Meer zu fließen, war über die Ufer getreten und hatte alles mit sich fortgerissen. Straßen, Ernten und ganze Dörfer wurden einfach weggeschwemmt. Etwa 2000 Menschen ertranken, die Zahl der Menschen, die unter dem Wasser zu leiden hatten, ging in die 14 Millionen. Viele hatten ihr Zuhause verloren. 7000 Schulen wurden zerstört. Es war die schlimmste Flut der Geschichte. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, nannte sie einen »Tsunami in Zeitlupe«. In den Nachrichten hieß es, die Flut in Pakistan hätte mehr Schaden angerichtet als der große Tsunami in Asien, das Erdbeben bei uns von 2005 , Hurrikan »Katrina« und das Erdbeben in Haiti zusammengenommen.
Das Swat-Tal war mit am stärksten betroffen. Von den 42 Brücken, die es gegeben hatte, waren 34 von den Fluten mitgerissen worden. Viele Orte waren dadurch von der Außenwelt abgeschnitten. Auch die Überlandleitungen waren weggerissen worden, keiner hatte Strom. Unsere Straße lag auf einem Hügel, daher waren wir vor den Fluten besser geschützt, aber wir hörten das Tosen des mächtigen Stroms und hatten Angst. Es klang wie ein gewaltiger, knurrender Drache, der alles verschlang, was sich ihm in den Weg stellte. Die hübschen Hotels und Restaurants am Fluss, wo früher die Touristen Forelle speisten und den Ausblick genossen, existierten nicht mehr.
Ohnehin waren die Tourismusgebiete am meisten betroffen. Bergorte wie Malam Jabba, Madyan und Bahrain wurden vollkommen verwüstet, alle Hotels, alle Basare zerstört.
Bald hörten wir von unseren Verwandten. Der Schaden in Shangla war kaum vorstellbar. Die Hauptstraße von Alpuri zu unserem Dorf war komplett weggeschwemmt worden. Ganze Dörfer waren in den Fluten verschwunden. Schlammlawinen hatten Häuser an den Hängen von Karshat, Shahpur und Barkana mitgerissen. Das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen war und in dem Onkel Faiz Mohammad lebte, stand zwar noch, doch die Straße dorthin gab es nicht mehr.
Die Menschen hatten verzweifelt versucht, das wenige in Sicherheit zu bringen, was sie hatten. Sie hatten Tiere in höher gelegenes Gelände geführt, doch die Fluten spülten die Ernte weg, vernichteten die Gemüsegärten und ließen viele Kühe ertrinken.
Die Dorfbewohner waren hilflos. Sie hatten ebenfalls keinen Strom, denn ihre kleinen Behelfsgeneratoren waren kaputt. Sie hatten auch kein sauberes Wasser, denn im Fluss schwammen Abfälle und Schutt. Die Kraft des Wassers war so stark, dass sogar Betongebäude einfach zerdrückt wurden. Schulen, Krankenhäuser und Kraftwerke an der Hauptstraße waren dem Erdboden gleich. Nur Armeehubschrauber warfen hie und da ein paar Vorräte ab.
Niemand begriff, wie so etwas hatte geschehen können. Seit 3000 Jahren lebten Menschen im Swat-Tal am Fluss. Er war unsere Lebensader und hatte noch nie eine Gefahr dargestellt. Unser Tal war immer unser sicherer Hafen gewesen. Nun waren wir das »Tal der Schmerzen« geworden, wie mein Vetter Sultan Rome sagte. Zuerst das Erdbeben, dann die Taliban, schließlich die Militäroffensive, und jetzt, gerade als wir angefangen hatten, alles wieder aufzubauen, kam die Flut und machte all unsere Arbeit zunichte.
Viele Menschen fürchteten nun, die Taliban könnten versuchen, diese Situation auszunutzen und ins Tal zurückzukehren. Mein Vater schickte Lebensmittel und andere Hilfsgüter nach Shangla. Er verwendete dazu Geld, das vom Verband der Privatschulen und Freunden gespendet wurde. Unsere Freundin Shiza und einige unserer politischen Mitstreiter, die wir in Islamabad
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