Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
Bleistift nahm ich an meiner Zimmerwand Maß. Jeden Morgen stellte ich mich an die Markierung, um zu sehen, ob ich gewachsen war. Doch der oberste Strich verharrte störrisch bei einem Meter zweiundfünfzig. Ich versprach Gott sogar 100 Rakat Nafl, freiwillige Zusatzgebete zu den fünf täglichen Gebeten, wenn ich nur noch ein kleines bisschen wachsen würde.
Inzwischen sprach ich auf vielen Veranstaltungen, und es fiel mir nicht leicht, respekteinflößend zu sein, weil ich so klein war. Manchmal konnte ich kaum über das Rednerpult schauen. Ich fing an, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, obwohl ich sie nicht mochte.
In diesem Jahr kehrte eines der Mädchen aus meiner Klasse nicht in die Schule zurück. Sie war verheiratet worden, als sie in die Pubertät gekommen war. Zwar war sie groß für ihr Alter gewesen, aber sie war trotzdem erst 13. Später hörte ich, dass sie zwei Kinder geboren hatte. Im Unterricht, meist dann, wenn wir Kohlenwasserstoff-Formeln auswendig lernen mussten, fing ich an, in den Tag hineinzuträumen. Ich stellte mir vor, wie es wäre, nicht mehr zur Schule zu gehen, sondern mich auf die Suche nach einem Ehemann zu begeben.
Wir hatten begonnen, an andere Dinge zu denken als an die Taliban. Aber ganz vergessen konnten wir sie nicht. Unsere Armee, die schon Cornflakes und Dünger herstellte, hatte auch noch damit angefangen, Seifenopern zu produzieren – es gab eine aufwendig gemachte Serie namens
Beyond the Call of Duty,
in der es angeblich um echte Lebensgeschichten von Soldaten ging, die im Swat gegen Taliban kämpften. Die Serie lief zur allerbesten Sendezeit.
Über 100 Soldaten waren während der Militäroffensive getötet, 900 verwundet worden. Sie wollten als Helden gefeiert werden. Doch obwohl ihr Opfer angeblich die Macht der Regierung wieder hergestellt hatte, war die Rechtsstaatlichkeit noch nicht wiederhergestellt. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, fand ich häufig weinende Frauen vor. Hunderte von Männern waren während der Militäroperation vermisst, möglicherweise von der Armee oder vom ISI gefangen gesetzt worden. Doch darüber verlor niemand ein Wort. Die Frauen erhielten keinerlei Informationen. Sie wussten nicht, ob ihre Männer und Söhne tot waren oder noch lebten. Einige Frauen befanden sich in einer völlig verzweifelten Lage, weil sie keine Möglichkeit hatten, sich selbst durchzubringen. Zumal eine Frau sich nur dann wiederverheiraten kann, wenn ihr Mann für tot erklärt wurde. Bei Vermissten geht das nicht.
Meine Mutter gab ihnen Tee und etwas zu essen, doch das war nicht der Grund, warum sie zu uns kamen. Sie wollten die Hilfe meines Vaters. Da er der Sprecher der Quami Jirga war, war er ein Bindeglied zwischen dem Volk und der Armee.
»Ich will nur wissen, ob mein Mann noch am Leben ist oder nicht«, jammerte eine Frau. »Wenn sie ihn getötet haben, kann ich die Kinder ins Waisenhaus bringen. Aber so bin ich weder Witwe noch Ehefrau.« Eine andere Frau erzählte mir, sie suche nach ihrem Sohn.
Die Frauen berichteten, ihre vermissten Männer hätten keineswegs für die Taliban gearbeitet. Sie hatten ihnen vielleicht auf Befehl Brot oder Wasser gegeben. Aber diese Unschuldigen wurden festgehalten, während die Taliban-Führer immer noch größtenteils frei herumliefen.
Eine der Lehrerinnen in der Schule, die nur zehn Minuten Fußweg von unserem Haus entfernt lebte, berichtete von ihrem Bruder. Ihn hatte die Armee aufgegriffen, in Eisen gelegt und gefoltert. Sie steckten ihn in einen Kühlschrank, bis er schließlich starb. Obwohl er gar nichts mit den Taliban zu tun hatte. Er war nur ein einfacher Ladenbesitzer. Danach entschuldigte sich die Armee bei ihr. Es hieß, man habe ihn verwechselt und leider die falsche Person erwischt.
Aber es kamen keineswegs nur arme Frauen. Eines Tages reiste ein reicher Geschäftsmann aus Maskat am Golf von Oman an. Er sagte meinem Vater, sein Bruder und fünf oder sechs seiner Neffen seien verschwunden. Er wolle wissen, ob man sie getötet habe oder nur irgendwo festhalte. In ersterem Fall müsse er neue Männer für ihre Frauen finden. Einer von seinen Verwandten war ein Maulana, und mein Vater schaffte es, ihn freizubekommen.
All das betraf aber nicht nur das Swat. Wir hörten, dass es in ganz Pakistan Tausende von Vermissten gab. Viele Menschen protestierten vor den Gerichtshöfen und hielten dabei Bilder der Gesuchten hoch, doch das half auch nichts.
Die Gerichtshöfe hatten anderes zu tun. In Pakistan gibt
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