Ich bin Nummer Vier - das Erbe von Lorien; Bd. 1
»Was ist passiert?«, fragt er in dem mir nur allzu gut bekannten Vielleicht-müssen-wir-schon-wieder-umziehen-Tonfall.
»Nichts, nur ein dummer Streit. Vielleicht habe ich das Handy ja auch fallen lassen, als ich es in meine Tasche stecken wollte.« Ich weiß, dass das nicht stimmt. »Ich war nicht in der besten Verfassung. Vielleicht wartet es im Fundbüro auf mich.«
Er schaut sich aufmerksam um, dann seufzt er. »Hat jemand deine Hände gesehen?«
Seine Augen sind rot und blutunterlaufen, er sieht noch müder aus als auf der Fahrt am Morgen zur Schule. Mit zerzaustem Harr steht er gebeugt da, als könne er vor Erschöpfung jeden Moment zusammenbrechen. Zuletzt hat er vor zwei Tagenin Florida geschlafen. Ich weiß nicht mal, wie er es überhaupt schafft, sich auf den Beinen zu halten.
»Nein, niemand.«
»Du warst anderthalb Stunden in der Schule. In der Zeit hat sich dein erstes Erbe entwickelt, du bist in einen Streit geraten und hast deine Tasche in einem Klassenzimmer vergessen. Nicht gerade das, was ich unauffällige Integration nennen würde.«
»Es war nichts. Jedenfalls nicht auffällig genug, um nach Idaho oder Kansas zu ziehen oder wo zum Teufel unser nächster Wohnort sein wird.«
Henri kneift die Augen zusammen, denkt über das gerade Gehörte nach und versucht zu entscheiden, ob es einen Umzug rechtfertigt. »Jetzt ist nicht der richtige Moment, leichtsinnig zu sein«, sagt er schließlich.
»Tagtäglich gibt es in jeder Schule Streitereien. Ich verspreche dir, sie werden uns nicht finden, nur weil ein Schlägertyp mit dem Neuen aneinandergeraten ist.«
»Außer, dass nicht in jeder Schule die Hände des Neuen Licht ausstrahlen.«
Ich seufze. »Henri, du siehst aus, als würdest du gleich auf der Stelle tot umfallen. Leg dich hin. Wir können uns entscheiden, wenn du dich ausgeruht hast.«
»Wir müssen über vieles reden.«
»Noch nie habe ich dich so müde gesehen. Schlaf ein paar Stunden. Dann reden wir.«
Er nickt. »Ein Schläfchen wäre wahrscheinlich gut für mich.«
***
Henri geht in sein Zimmer und schließt die Tür. Ich laufe hinaus und drehe ein paar Runden im Hof. Die Sonne versteckt sich hinter den Bäumen und ein frischer Wind weht. Ich ziehedie Handschuhe aus und steckte sie in die Hosentasche. Als ich meine Hände betrachte, sind sie immer noch wie zuvor. Ehrlich gesagt ist nur ein Teil von mir begeistert, dass mein erstes Erbe endlich, nach so vielen Jahren ungeduldigen Wartens, eingetroffen ist. Die andere Hälfte von mir ist niedergeschlagen. Unser ständiges Umziehen hat mich ausgelaugt, und jetzt ist es erst recht undenkbar, sich anzupassen oder länger an einem Ort zu bleiben. Es wird unmöglich sein, Freundschaften zu schließen oder das Gefühl zu haben, dass ich dazugehöre. Ich habe die falschen Namen und die Lügen satt. Ich habe es satt, immer über die Schulter blicken zu müssen, ob ich verfolgt werde.
Ich betaste die drei Narben an meinem rechten Knöchel. Diese Kreise symbolisieren die drei Toten. Wir sind durch mehr als unsere Rasse miteinander verbunden. Während ich die Narben spüre, versuche ich mir vorzustellen, wer sie waren, ob Jungen oder Mädchen, wo sie lebten, wie alt sie waren, als sie starben. Ich versuche mich an die anderen Kinder auf dem Schiff zu erinnern und gebe jedem einzelnen eine Nummer. Ich überlege, wie es wäre, wenn wir uns träfen und miteinander Zeit verbrächten. Wie es gewesen sein könnte, als wir noch in Lorien lebten. Wie es sein könnte, wenn das Schicksal unserer gesamten Art nicht vom Überleben einiger weniger Loriener abhängig wäre. Wie es wäre, wenn wir nicht dem Tod durch die Hände unserer Feinde ausgesetzt wären.
Es macht mir Angst zu wissen, dass ich der Nächste bin. Aber wir waren ihnen bis jetzt immer einen Schritt voraus, weil wir umgezogen sind, weil wir davongelaufen sind. Auch wenn ich die Nase voll habe von diesem Davonlaufen, weiß ich, dass wir unser Überleben nur ihm verdanken. Wenn wir stehen bleiben, werden sie uns finden. Und jetzt, wo ich der Nächste bin, haben sie zweifellos ihre Suche beschleunigt. Bestimmt wissen sie, dass wir stärker werden, wenn wir über unser Erbe verfügen.
Und dann ist da der andere Knöchel mit der Narbe, die sich bildete, als der lorienische Zauber über uns ausgesprochen wurde – in diesen kostbaren Momenten, noch vor unserem Abschied von Lorien.
Sie ist das Brandmal, das uns verbindet.
6
Ich gehe ins Haus und lege mich in meinem Zimmer auf die nackte
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