Ich bin unschuldig
Tomatensoße auf die Bluse, oder im Radio lief das falsche Lied, oder sie sah durchs Fenster jemanden, den sie nicht mochte. Dann überlegte sie es sich anders und kehrte um. Die sauerstoffreiche Luft rüttelte am Fenster, doch im Auto wurde die Atmosphäre schwarz und sauer.
Darüber denke ich gerade nach, als Philip an diesem Abend anruft: dass Dinge, die man sich sehnlichst herbeigeträumt hat, manchmal in dem Augenblick, da man sie bekommt, in Enttäuschung umkippen.
Er sagt alles, wonach ich mich gesehnt habe. Er hat gerade eine SMS von Rog bekommen. Er hat erfahren, was passiert ist. Es tut ihm leid, dass ich durch die Hölle gehen musste. Dem Teufel sei Dank, dass es vorbei ist. Was hat die Polizei sich bloß dabei gedacht, mich festzunehmen? Warum haben sie nicht eine Minute mal nachgedacht …? Es tut ihm schrecklich leid, dass er nicht früher angerufen hat. Sein Handy war am Ladekabel. Ein Meeting nach dem anderen, danach zum Karaoke zwangsverpflichtet – diese endlosen Unterhaltungsprogramme für die Mitarbeiter. Er hat nicht mal geduscht. Er hat gesehen, dass ich angerufen habe, aber er hat die Nachricht eben erst abgehört. Natürlich hätte er zurückgerufen, wenn er es gewusst hätte. Geht es mir gut? Ich klang so verzweifelt. Hat die Polizei mich mit aufs Revier genommen, weil ich die Leiche gefunden habe? War das der Grund?
Ich weiß nicht. Es spielt keine Rolle. Ja. Es tut mir leid. Ja.
Er kommt sofort nach Hause, sagt er. Er nimmt den nächsten Flug.
Ich bin ganz ruhig. Es ist, als würde ich von oben auf mich herabschauen, aus dem Cockpit der Boeing 747 oder womit auch immer er heimfliegt. Er klingt gar nicht nach Philip. Er klingt nach einem Vertreter von Philip; der echte Philip ist tief unter den Manierismen, den Sprüchen vergraben, der echte Philip denkt und empfindet etwas ganz anderes. Ich erinnere mich an ein schwieriges Gespräch in Brighton. Ich sagte: »Du bist komisch.« Und er sagte: »Nein, ich bin nicht komisch. Aber wenn du so was sagst, fühle ich mich komisch.« Alles kommt mir künstlich vor. Bilder von uns beiden von früher. Die ganzen Erinnerungen, die ich unablässig hochzerre. Sie sind alle gefiltert. Es sind nur Worte und Posen.
»Bleib in Singapur«, sage ich. »Es war nur ein Sturm im Wasserglas. Es tut mir leid, dass ich dir was vorgeheult habe. Ich habe mich zu sehr aufgeregt, ich war müde. Aber jetzt ist es vorbei. Ich brauche nicht mal einen Anwalt. Es war ein Missverständnis. Es genügt, dass du es angeboten hast. Millie ist ab morgen bei Robin, und … Komm erst nach Hause, wenn …« Ich möchte, dass er die Leerstellen füllt, dass er spürt, dass ich etwas zurückhalte, dass ihm etwas an mir liegt.
Als es an seinem Ende still bleibt, füge ich hinzu: »Bleib.«
»Also, wenn du meinst. Na ja, es war eine weite Reise …« Er gähnt, ein schmerzliches Schweigen, ein Schluchzen. »Und wenn du versprichst, dass die Polizei dich hat gehen lassen …«
»Bleib«, sage ich noch einmal.
»Okay, altes Mädchen.«
Altes Mädchen.
Ich bin in der Küche und schaue in den Garten hinter dem Haus, auf das Rechteck aus gebändertem Licht über dem Apfelbaum. Ich grabe die Fingernägel fest in meine Handfläche, und der Schmerz ist so gewöhnlich, so leicht auszuhalten, dass ich beinahe lache.
Samstag
Ich schlafe nicht gut. Er quält mich, der Schlafmangel. Satzfetzen aus meinem Telefongespräch mit Philip kommen mir wieder in den Sinn: dass er mir erzählt hat, dass er nicht geduscht hat, die nachsichtige Wichtigtuerei dieser »endlosen Unterhaltungsprogramme für die Mitarbeiter«, sein Gähnen. Irgendwo leiden Ania Dudeks Eltern, und Philip wird zum Karaoke »zwangsverpflichtet«. Ich habe gesagt, er soll dort bleiben, und ich habe es ernst gemeint, aber er hätte darauf bestehen sollen, nach Hause zu kommen. Er hätte merken sollen, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Selbst wenn nicht, hätte er an meiner Seite sein wollen sollen. Nichts hätte ihn von mir fernhalten dürfen. Meine Sehnsucht verwandelt sich in Hass. Die beiden Gefühle waren, wie sich erweist, nie besonders weit voneinander entfernt. Man denkt, es ist ein Kontinuum, ein langer Bogen, ein Prozess, doch es ist, wie einen Schalter umzulegen. Ich knülle sein Hemd zusammen, auf dem ich letzte Nacht geschlafen habe, und schleudere es durchs Zimmer. Die Wut ist seltsam tröstlich, und am Morgen bin ich früh wach. Martas Tür ist zu. Sie ist spät nach Hause gekommen. Ich packe Millies
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