Ich bin unschuldig
zwischen mich und mein Kind kommen, denke ich. Für einen Augenblick wünsche ich mir, Clara wäre nicht gekommen und ich könnte mich mit Millie einkuscheln und die Augen schließen. All meine Sorgen, das ganze Trauma, wenn ich es doch nur hierauf reduzieren könnte.
»Ich hab dich lieb«, sage ich.
»Ich hab dich lieber.«
»Ich hab dich noch lieber.«
Ich bleibe ein wenig länger bei ihr als nötig. Als Millie noch ganz klein war, haben Philip und ich uns links und rechts von ihr hingelegt, bis sie eingeschlafen war. Manchmal döste er auch weg, und dann sah ich den beiden zu, dem Heben und Senken ihrer Brustkörbe, dem Flattern ihrer Augenlider. Es wäre erheblich leichter, wenn ich mich nicht dauernd an solche Sachen erinnern würde. Ich reibe mir die Augen. Ich muss mich zusammenreißen und runtergehen. Ich werde Clara alles erzählen, was seit Donnerstag passiert ist, aber ich will es zuerst gedanklich sortieren. Solange ich es im Kopf klar habe, ist alles gut. Wenn ich anfange, meiner ältesten und liebsten Freundin alles zu beichten, höre ich womöglich gar nicht mehr auf. Die ganzen Ängste wegen meiner Ehe, meinem Job. Dieser Mord hat alles in Bewegung gesetzt. Einzelne Informationen auszuwählen mag mangelndes Vertrauen in unsere Freundschaft bedeuten, doch der trendige Medienwissenschaftler, den wir kürzlich in der Show hatten, hat etwas gesagt über Atome und Elektronen und Kerne und dass ein Atom reagiert, um die Elektronenschale zu füllen … Also, genau das tue ich. Ich versuche nur, das Energieniveau zu verschieben und meinen Atomkern glücklich zu machen mit einer vollen Elektronenschale.
Als ich runterkomme, hat Clara sich umgesetzt, sie hat mir jetzt den Rücken zugekehrt und schaut raus in den Garten. In dem Fenster im oberen Stock auf der anderen Seite der zwei Gärten brennt Licht. Ich glaube, es ist ein Badezimmer. Bei dem flächigen weißen Licht kann es eigentlich nur ein Bad sein. Oder ein Büro. Ich schaue, ob sich etwas bewegt, doch das Rechteck ist leer.
Ohne sich umzudrehen, sagt sie: »Wo ist Philip? Ist er nicht hier?«
»Nein, er ist unterwegs.«
In ihren Augen blitzt etwas auf, als sie sich umdreht. Vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein. »Und er ist nicht zurückgekommen, als er erfahren hat, dass du verhaftet wurdest?«
»Bis jetzt nicht.« Mein Tonfall ist so beiläufig, man könnte ihn unmöglich einfangen, wenn man es versuchte. »Wenn ich ehrlich bin, hat er nicht mal angerufen.«
»Das ist lächerlich.«
»Es ist durchaus möglich, dass er es noch nicht weiß. Ich bin nicht durchgekommen.«
Wieder habe ich dieses Gefühl. Es kommt aus dem Nichts. Es ist, als würde ich am Rand eines Abgrunds stehen. Ich könnte ihr alles erzählen, und sie wäre immer noch auf meiner Seite.
Ich setze mich und schenke uns nach. Außen an meinem Glas sammelt sich Kondenswasser, und ich zeichne mit dem Finger Muster hinein, während ich rede. Ich erkläre ihr, dass ich vorher vieles weggelassen habe. Ich sage ihr, dass ich glaube, dass Perivale mich hasst, und zähle seine Indizien auf: die äußerliche Ähnlichkeit, die Kleider, die Zeitungsausschnitte, die italienischen Erdbrocken, die Kreditkartenquittung.
Clara stellt ihr Glas ab, während ich rede, und als ich fertig bin, sieht sie mich aufmerksam an. »Und warum glaubt die Polizei, dass du es warst?«
»Die interessieren sich anscheinend überhaupt nicht für ein Motiv. Sie haben eine vage Idee, sie vermuten, dass …« – was soll ich sagen? – »… dass sie mein Stalker war und ich sie umgebracht habe, damit … sie damit aufhört?«
»Ein bisschen weit hergeholt.«
»Ich weiß.« Ich habe Clara nicht viel von meinem Stalker erzählt. Es ist mir unangenehm, als wollte ich Aufmerksamkeit auf meinen Halb-Promi-Status lenken. Als Philip es neulich bei dem Essen beim Chinesen erwähnt hat, habe ich in ihren Augen denselben Ausdruck gesehen, den sie bekommt, wenn über eine bestimmte Form der Lernbehinderung gesprochen wird, die sie als »Mittelklasse-Dyslexie« bezeichnet.
»Hat sie dich ›gestalkt‹?«
Gänsefüßchen.
»Ich weiß nicht. Man geht doch eher von einem Mann aus … In einem Bericht aus den USA vor zwei Jahren hieß es, dass bei siebenundsechzig Prozent der weiblichen Stalkingopfer die Täter Männer sind. Aber …« Ich unterbreche mich und runzle die Stirn.
»Und wie erklärst du es dir?«
»Die Indizien verbinden Ania Dudek ja eigentlich nicht unbedingt mit mir, sondern mit dem
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