Ich bin unschuldig
eine Nachbesprechung. Er stapft über den abschüssigen Rasen. Die Tauben an den Mülleimern fliegen auf. Ich sehe, wie er sich in den Schatten beugt, das Gesicht dreht, als er redet. Er schaut auf seine Uhr, ein schnelles, gereiztes Drehen des Handgelenks.
Ich warte. Im vierten Stock von Christas Gebäude lehnt ein Mann mit rasiertem Schädel am Balkongeländer und schaut herunter. Die Tür eines Lieferwagens geht mit einem Rums zu. Musik: »Don’t you want me, baby?« Der Lieferwagen fährt vorbei. Der Mann mit dem rasierten Schädel verschwindet in seiner Wohnung.
Jack kommt die Wiese hoch. Christa ist bei ihm. Er blickt betont nicht in meine Richtung.
Selbst von hier aus kann ich sehen, dass sie eine bemerkenswerte Frau ist, spitze Züge, kastanienbrauner Bubikopf und strenger Pony. Es ist ein kühler Tag, doch sie trägt ein Sommerkleid und Sandalen mit Keilabsatz. An einem Absatz hat sich die Bastschnur gelöst und schlägt beim Gehen gegen ihren Knöchel.
Ich überlege nicht lange, und in dem Augenblick, da ich aus dem Auto steige, ist es zu spät. Ich fange sie auf dem Weg ab. Jack wirkt erschrocken. Nervös setzt er an, uns einander vorzustellen, doch sie unterbricht ihn.
»Gaby Mortimer«, sagt sie. »Sie sind Gaby Mortimer von Mornin’ All .«
»Ja.«
»Sie haben Ania gefunden. Sie haben meine Freundin gefunden.«
Ich nicke. Meine Freundin. Die beiden Frauen waren befreundet. Ich krümme fest die Zehen, um nicht zu schwanken. Ich stelle mir vor, wie sie am Telefon plaudern, wie sie zusammen ausgehen, Arm in Arm, lachen.
»Und Sie kennen einander?« Sie sieht von Jack zu mir. Er macht den Mund auf und wieder zu; er hat noch Mühe, sich zu fassen.
»Ja«, sage ich und stelle mich ein wenig breiter hin. »Und ich wollte Sie kennenlernen. Es tut mir leid. Wir hätten es gleich sagen sollen. Ich hätte offener sein sollen.«
»Gaby hilft mir bei dem Erinnerungsb…«
Sie unterbricht ihn. »Aber die Polizei hat Sie festgenommen?«, sagt sie. »Sie hat Sie über meine Freundin befragt?«
»Es war ein Fehler«, sage ich. »Ich habe versucht zu helfen. Die arme Ania. Ich wurde nur …« Doch in ihren Augen ist ein Ausdruck, so hilflos, so traurig, dass ich aufhöre mit meinen Erklärungen und sie in die Arme nehme. Ich spüre, wie schmal ihre Knochen sind, wie spitz ihr Kinn, spüre ihren Atem an meinem Hals. »Es tut mir so leid«, sage ich. »Es tut mir so schrecklich leid wegen Ania. Es muss sehr schwer für Sie sein, eine Freundin zu verlieren. Ich kann mir das nicht vorstellen.« Ich löse mich. Ich sehe Jacks Miene. Er ist verdutzt. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Sie beißt sich auf die Oberlippe und nickt. Ihre Augen sind grün, mit haselnussbraunen Einsprengseln. Ihre Haut ist blass. Als sie die Zähne von der Lippe löst, bekommen ihre Wangen wieder Farbe. Sie erwidert meinen Blick. »Sie sind so nett. Danke.« Sie legt die Hand auf meinen Arm, und ich spüre, dass etwas Trübes und Schweres schwindet. Sie glaubt mir.
Jetzt unterbricht Jack uns und erklärt, dass Christas Mann Pawel schläft – er arbeitet nachts als Wachmann – und dass sie in ein Café gehen wollten. Er sieht mich mit großen Augen an, um mich daran zu erinnern, dass er es eilig hat, um zu seinem Auftrag zu kommen.
»Also, es ist immer schön, in ein Café zu gehen. Ein Café ist immer etwas Besonderes. Nicht dass ich Hunger hätte. Wie steht’s mit Ihnen, Jack?« Ich rede ihm zu wie einem kleinen Kind. »Ich habe gerade erst gefrühstückt.«
Wir gehen den Weg wieder runter in Richtung Hauptstraße, durch samtige Schatten und Rechtecke aus Licht. Busse mit leichter Schieflage versammeln sich unten, ihr Brummen hallt kehlig wider. Der Bürgersteig ist schmal, und Jack geht ein paar Schritte hinter uns. Ich frage Christa, ob sie mit der Polizei gesprochen hat, und sie sagt, ja, einmal, doch sie hatte nichts zu sagen. Sie war in Polen auf Hochzeitsreise, als Ania … starb.
Ein Wagen fährt vor. An den hinteren Fenstern flattern Mini-Union-Jacks. Rihanna plärrt und verstummt abrupt. Ein junger Mann mit reichlich tätowierten Unterarmen steigt aus, in der Hand einen Heliumballon in Form einer Drei. Christa nickt ihm zu.
»Ich musste nach Hause nach Krakau, um zu heiraten«, sagt sie, nachdem er fort ist. »Eine große Hochzeit mit der ganzen Familie. Ania war da. Es war die Woche davor … das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
»Hatten Sie eine schöne Hochzeit?«, frage ich freundlich.
»Ja.
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