Ich bin verboten
von einer hochangesehenen Seminarschule für Mädchen in Nordengland gesprochen hatte. Leah behauptete, dort die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht zu haben. Hannah war bereit, auf die Hilfe der Mädchen zu verzichten, um ihnen ein Geschenk von bleibendem Wert zu machen: Ungestört von Haushaltspflichten und der Betreuung der Geschwister, sollten Mila und Atara einige Semester lang die Thora studieren dürfen.
Zalman wandte ein, dass die Seminarschule zwar ultra-orthodox sei, aber nicht chassidisch. Bei den Chassidim sei es weder üblich, Frauen in der Thora zu unterweisen, noch entzöge man unverheiratete Mädchen ohne Not der schützenden Aufsicht des Vaters. Gleichzeitig beunruhigte ihn jedoch die Vorstellung, dass die beiden jungen Mädchen ohne Beschäftigung in Paris herumlungerten, zumal er bei Atara in letzter Zeit wiederholt säkulare Bücher gefunden hatte. Er konsultierte jüngere rabbinische Entscheidungen zu dem Thema, die keinen Schaden darin sahen, wenn Frauen sich mit der Heiligen Schrift und Ethik beschäftigten, überprüfte, ob es im Talmud keine anderslautenden Vorschriften gab, die es Frauen ausdrücklich verboten, und gab der Seminarschule schließlich seinen Segen.
Ataras Streifzüge durch die Stadt bekamen eine neue Dringlichkeit: Vielleicht waren diese Augusttage in Paris die letzten, in denen sie die Stadt als ihre Heimat bezeichnen konnte. Sicher erwartete man von ihr, dass sie nach der Seminarschule in eine ausländische chassidische Gemeinde einheiratete. Zalman war unerbittlich: Keines seiner Kinder sollte langfristig in Frankreich bleiben, denn in diesem Land sei es einfach zu schwer, ein Kind chassidisch zu erziehen. Atara stand auf der Mitte der Pont Saint-Michel und blickte rechter Hand auf das hochfliegende Strebewerk von Notre-Dame mit seinem Gewirr von Wasserspeiern und Türmchen. Dann schaute sie nach links auf die Kette von Brücken, die sich über die Seine wölbten, die Pont Neuf, die Pont des Arts … Sie liebte, was die alten Steine von der Zeit erzählten, der Zeit vor Atara und der Zeit nach Atara, und sie liebte die Vorstellung, selbst nur ein kleiner Punkt in dieser Unendlichkeit zu sein. Die Glocken schlugen die Stunde, die sich dann wieder mit Stille füllte, während in Atara die Sehnsucht anschwoll. Sollte Paris wirklich nur eine Station auf ihrer Wanderschaft sein? Wenn Paris eine Heimat in ihrem Herzen gefunden hatte, warum konnte dann nicht sie eine Heimat in Paris finden?
Wie gerne hätte Atara sich mit ihren Klassenkameradinnen im Lyzeum auf das Baccalauréat vorbereitet, doch das würde bedeuten, dass ihre Familie aus dem Verzeichnis guter chassidischer Familien gestrichen wurde. Ihre Geschwister würden schlechte Partien machen oder überhaupt nicht heiraten können … Hatte sie ein egoistisches Herz, dass es davon träumte, ein eigenständiges Leben zu führen?
Das Hupen des Taxis drang durch die offenen Fenster. Die Koffer der Mädchen standen bereits im Treppenhaus. Hannah legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Mila und Atara, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Sie öffnete die alte Walnusskommode aus Siebenbürgen, die bis auf zwei Stapel neuer Bettlaken und Kissenhüllen leer war. »So Gott will, wird die Kommode sich mit eurer Aussteuer füllen. Da lachst du, Milenka? Zwei, drei Jahre sind schnell vorbei …«
Hannah küsste die Mädchen und segnete sie für die Reise. »Der Herr segne euch. Möge Er eure Schritte behüten …«
Ein letztes Mal ermahnte Zalman Mila und Atara, die Familienehre nicht zu beschmutzen und an die chassidischen Ahnen zu denken. »Der Herr segne euch. Möge Er eure Schritte behüten …«
Der Zug ratterte in Richtung Norden. Es war die letzte Etappe der langen Reise; Mila las in ihrem Buch der Psalmen, und Atara schaute aus dem Fenster. Northampton … Leicester. Sie sah weder Äcker noch Städte, sondern nur lange Straßenzüge einfacher Ziegelbauten, endlose Reihenhauszeilen, die gelegentlich von Abraumhalden und hohen Schornsteinen unterbrochen wurden. Doncaster … Newton Aycliffe. Leah Bloch hatte Atara mit der Behauptung neugierig gemacht, dass an der Seminarschule die gelehrtesten Rabbiner unterrichteten, von denen einige nicht nur über ein breites Wissen auf dem Gebiet der Thora verfügten, sondern auch in weltlichen Fächern bewandert waren. Wenn Atara sich nur Mühe gab, fand sie im Seminar vielleicht Antworten auf all die Fragen, die sie Zalman nicht zu stellen wagte. Und Atara brauchte dringend
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