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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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Antworten, die ihr halfen, sich auf die Ehe mit dem frommen jungen Mann vorzubereiten, den Zalman für sie aussuchen würde. Stony Heap … Deaf Hill. Sie wollte es deshalb auf einen Versuch ankommen lassen und nahm sich vor, die heiligen Texte genauso aufmerksam zu studieren, wie sie die säkularen Bücher gelesen hatte. No Place … Quaking Houses. Ohne Vorbehalte wollte sie in die Lehren der Seminarschule eintauchen, vielleicht würde der Zauber der heiligen Worte dann auch auf sie wirken, vielleicht würde sie dann nicht mehr vom Baccalauréat träumen, sondern davon, die korrekte Zubereitung von Sabbatmahlzeiten zu erlernen. Vielleicht musste sie dann Zalman und Hannah nicht das Herz brechen.
    Die Kupplungen zwischen den Waggons rumpelten. Unter zischenden Dampfwolken verlangsamte der Zug sein Tempo und kam schließlich unter einem dunklen Gewölbe zum Stehen.
    Auf dem Bahnsteig wurden Mila und Atara von zwei Mädchen in langen Röcken begrüßt. Im Taxi unterhielten sich die beiden Seminaristinnen voller Begeisterung über das neue Erstsemester. Noch nie hätten so viele Mädchen zu studieren begonnen – fünfundvierzig, Gepriesen sei der Herr! Insgesamt seien sie jetzt fast hundert Mädchen an der Schule. Der Direktor sei sehr glücklich, Gepriesen sei der Herr, denn in diesem Jahr gäbe es wirklich ganz besondere L1-Mädchen.
    »L1-Mädchen?«, fragte Atara.
    »Lehrerinnen 1 – für Lehrerinnenseminar. Man bekommt den Abschluss aber nur, wenn man die ganzen drei Jahre bleibt.« Ein Unterton des Bedauerns schwang in der Stimme des Mädchens mit.
    »Marguit ist verlobt!«, schaltete sich das andere Mädchen ein.
    Mila und Atara schüttelten Marguit die Hand. »Masl-tow!«
    »Und Esti ist auch verlobt«, lachte Marguit.
    »Masl-tow!«
    Das Taxi hielt vor dem Mittelteil eines dreistöckigen Gebäudekomplexes. Die älteren Studentinnen erklärten, dass die Schule aus vier benachbarten Häusern bestände, die durch Gänge miteinander verbunden seien. Nein, Mila und Atara seien nicht im selben Zimmer untergebracht; die L1-Mädchen würden ermuntert, neue Freundschaften zu schließen.
    *
    Sechs einander gegenüberstehende Betten unter einer nackten Glühbirne. Sechs Regalbretter hinter verblichenem grün-weinroten Kordstoff. Ein lauter Glockenschlag, und das Licht ging aus. Die Spule des an die Wand montierten Heizgeräts glühte kurz orange auf und wurde wieder dunkel. Atara lag im mittleren Bett der Reihe, die aufs Fenster blickte, und zog sich die grobe Decke bis unter die Nase. Sie wollte es versuchen; sie musste es versuchen: einschlafen, ohne vorher zu lesen. Wo hätte sie in einem Zimmer, das sie mit fünf anderen Mädchen teilte, auch ein Buch und eine Taschenlampe verstecken sollen? Als sie sich in den Schlaf zu wiegen versuchte, hatte sie das Gefühl, von einem Zug an einen weit entfernten Ort geschaukelt zu werden … tournent roues, tournent roues … tournent … tournent …
    In einem Zimmer mit zwei einander gegenüberliegenden Bettenreihen im Nachbarhaus versuchte Mila einzuschlafen. Die fromme Inbrunst, mit der ihre Zimmernachbarinnen die Abendgebete flüsterten, wirkte tröstlich und beruhigend auf sie. Mila fiel mit ein: »Zu meiner Rechten Michael, zu meiner Linken Gabriel … vor mir Uriel …«
    Am nächsten Morgen wachte Mila mit einem Gefühl der Vorfreude auf. Sie fand es aufregend, zur ersten Generation chassidischer Frauen zu gehören, denen es erlaubt war, die Heilige Schrift zu studieren. Sie freute sich darauf, Mädchen aus den unterschiedlichsten Richtungen orthodoxen Lebens kennenzulernen: Chassidim und Misnagdim, Jüdinnen aus litauischen, jekkischen und polnischen Familien, aus allen Ecken Europas, aus den beiden Amerikas, aus Australien und Südafrika. Und alle trugen sie lange Röcke und langärmelige Blusen; unter diesen Mädchen würde sie endlich normal sein.
    Der Stundenplan lautete: Pentateuch, Propheten, Midrasch, Jüdisches Denken, Lebensführung. In den Pentateuchstunden fragte sich Mila oft, ob die jeweiligen Interpretationen wohl auch schon ihrem Vater bekannt gewesen waren. Ob ihn die Gematria genauso fasziniert hatte wie sie? Mila empfand sie einerseits als okkult, andererseits als intellektuell; sie war mystisch und trotzdem rationell, transportierte sie die hebräischen Worte der Heiligen Schrift doch in die universellere Sprache der Zahlen.
    »Ist es dir aufgefallen?«, flüsterte Mila während der nachmittäglichen Lernstunden Atara zu. »Die Buchstaben im Wort

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