Ich bin verboten
klammerte sie sich an die alten Bräuche der Trennung: den Sabbat von Wochentagen, Heiliges von Profanem, Reines von Unreinem. Sie putzte und polierte alle Oberflächen und faltete ihre Unterwäsche zu perfekten Quadraten. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Atara bei ihr sein würde, wenn ihre Eltern zurückkamen, entwirrte sie das Wäscheknäuel in Ataras Schublade und faltete es ebenfalls in perfekte Quadrate.
In der Nacht lagen die Mädchen in ihren nebeneinanderstehenden Betten, doch auf dem Stuhl dazwischen ruhten keine Hände mehr. Mila starrte in die Dunkelheit. Sie fürchtete sich vor dem schlimmen Traum: die Mutter erschossen, der Vater über die Gleise geschleift … Manchmal, wenn Mila viele Tage lang eine gute Jüdin gewesen war, träumte sie auch den guten Traum, in dem ihre Mutter »Rebbe!« rief und der Rebbe von seinem Buch aufblickte und sich erhob, um sie zur Eile zu mahnen. Dann kletterten sie in den offenen Viehwaggon, ihre Mama mit dem dicken Bauch und Mila auf Tattas Arm, und wenn der Zug wieder anfuhr, reisten sie alle gemeinsam an das Ziel des Rebbe. Doch auch nach dem guten Traum musste Mila weinen. Sie weinte, weil es nur ein Traum war. Früher hatte Atara sie dann immer getröstet: »Beste Freundinnen, Schwestern fürs Leben.«
Doch jetzt blieb Atara still. »Sprich mit mir«, flüsterte Mila in der Dunkelheit, aber nicht laut genug, um gehört zu werden.
Wenn sie zur Sonntagsschule gingen, lief Atara weit vor Mila her. Auf der Brückenmitte blieb sie stehen. Ihre Hände umschlossen das Geländer, ihr Knie zwängte sich zwischen zwei Stangen. »Warte auf mich, warte auf mich …«, beschwor Atara den Fluss, und ihr Blick folgte den schnellen Fluten.
»Flüsse sind gleichgültig«, sagte Mila, wenn sie Atara einholte.
»Meiner nicht.«
Am Sabbat kam Leah Bloch, um mit den Kindern in den Park zu gehen, doch Atara wollte nicht mit. Im Mädchenschlafzimmer spielte die Sonne auf dem frisch verlegten Linoleum, doch Atara griff nach einem alten Buch mit Eselsohren, das sie am Grund der Spielzeugkiste gefunden hatte, deren Inhalt in der Gemeinde für die Kinder des neuen Rabbiners gesammelt worden war.
»Du darfst doch am Sabbat kein gojisches Buch lesen«, flüsterte Mila.
Atara schlug die erste Seite auf und betrachtete die Illustration. »Ca-nard, jau-nes, oeufs …«, probierte sie die neuen französischen Wörter aus.
»Atara, bitte pass auf.«
Atara blätterte weiter. »Ich glaube, diese Geschichte würde dir gefallen.«
Statt zu beteuern, dass ihr ein gojisches Buch ganz gewiss nicht gefallen würde, und schon gar nicht am Sabbat, fragte Mila: »Darf ich mich neben dich setzen?«
Atara rutschte zur Wand, um auf ihrem Bett Platz für Mila zu machen, und blätterte dann weiter durch die bebilderten Seiten.
Eine Entenmutter, hinter der sich glückliche gelbe Küken reihten. Ein großes graues Ei, das sich gerade öffnete. Weiße Schwäne glitten über ihr eigenes Spiegelbild. Atara starrte auf die letzte Seite. »Da ist die Entenmutter, dort sind die gelben Küken und dort die Schwäne, aber wo ist das hässliche junge Entlein?«
»Vielleicht versteckt es sich. Hinter dem Baum?«
»Ja, das hässliche Entlein hat sich versteckt. Es kommt erst in der Dunkelheit heraus, wenn die Schwäne ihre langen Hälse neigen, um den Tag zu verabschieden. Und wenn die Schwäne dann die Schnäbel unter ihre Flügel stecken, macht das Entlein es sich bei ihnen gemütlich. Sie schlafen auf dem dunklen See, genau wie wir …«
»Aber wir beide sind Jüdinnen«, sagte Mila.
»Na und?«
»Juden können nicht Schwäne oder Enten sein.«
Atara zog das Buch zurück. »Können sie doch.«
Der vom Sabbatmittagsschlaf erfrischten Hannah fiel das bedrückte Schweigen der Mädchen auf. Als Zalman zum Abendgebet gegangen war, rief sie die beiden zu sich. Sie setzte sich ans Tischende, ließ die Mädchen rechts und links von sich Platz nehmen und fasste sie bei den Händen. »Ojfn weg, schtejt a bojm, schtejt er ajngebojgn …«, begann sie zu singen und blickte Mila dabei fragend an. »Hat deine Mama dir das Lied beigebracht, Milenka? Ja? Dann sing mit.«
Und Mila fiel mit ein: »Ich werde sitzen auf dem Baum … über den Winter tröste ich ihn, mit einem schönen Lied …«
»Kind! Nimm einen Schal mit, könntest dich verkühlen, die Schuhe zieh dir an … Und die Mütze auf den Kopf …«
»Meine Flügel sind so schwer, von den vielen Sachen, die die Mutter mir gebracht, dem Vögelchen, dem
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