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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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dass ein Kind für die Sünden seiner Eltern leiden muss …? Für Atara waren es gute Fragen, die mit dem wahren Leben zu tun hatten, Fragen, die vielleicht auch für Mila wichtig waren, doch als sie die dunklen Augen des Rabbiners auf ihrer erhobenen Hand spürte, raste ihr das Herz bis zum Hals, sie brachte kaum noch ein Wort hervor. Wie jedes Mal, wenn sie solche Fragen stellen wollte, würde ihre Stimme zittern, und sie würde nach Luft schnappen.
    »Nichts. Bitte entschuldigen Sie.«
    Ataras Hand senkte sich wieder, während sie mit der anderen Hand das Wort Nürnberg kritzelte. Atara hatte über die Nürnberger Prozesse gelesen und auch ohne Übersetzung viel verstanden. Die Worte waren fast dieselben wie im Jiddischen: Befehl ist Befehl. Die Nazis verteidigten sich damit, dass sie nur Befehle befolgt hätten. Aber durfte man Befehlen blind folgen? Atara fand, dass das eine gute Frage war, doch Rabbi Braunsdorfer würde sie sicher anbrüllen. »Willst du etwa den Willen des Herrn mit Hitlers Befehlen gleichsetzen? Gott bewahre!«
    Ataras Stift zog diagonale Linien über das Wort Nürnberg, dann schraffierte sie kreuzweise dagegen und setzte Punkte ins Gitter – kurze, gleich schwere Linien und identische Punkte. Um den Herrn zu ehren, prägte ihr Stift ein anderes Schließmuster. Die Punkte füllten den Rand aus, der Rand blutete in die Seite …
    »Miss Star, bitte eine streng wortgetreue Übersetzung …« Rabbi Braunsdorfer spielte gerne mit den Namen der Mädchen, und Atara Stern, eine Kombination aus Krone und Stern, in der auch noch das englische stern für streng oder ernst mitschwang, bot ihm eine breite Angriffsfläche.
    Atara las den hebräischen Text und übersetzte: »Maß für Maß straft der Herr, der Herr ist gerecht …«
    »Danke. Der heilige Chason Isch, Friede sei seiner Seele, lehrt uns: Vor dem Krieg schickten jüdische Eltern ihre Kinder auf säkulare Schulen; sie sorgten sich ums körperliche Heil der Kinder, doch ihre Seelen opferten sie. Maß für Maß strafte der Herr diese Eltern und nahm ihren Kindern das Leben.« Rabbi Braunsdorfers Stimme hatte einen hohen, nasalen Ton angenommen. »Und es war ein Akt der Gnade! In einem Akt der Gnade nahm HaSchem den polnischen Gemeinden den freien Willen, bevor es endgültig zu spät war.«
    Wie es sein könne, dass unter den getöteten Kindern auch Abkömmlinge aus gottesfürchtigen Familien waren, fuhr er fort. Bitul Thora, zu wenig Thora, habe all das Leid gebracht. Und wenn es genug Thora gab, musste das Leiden von Unschuldigen yesurim schel ahava zugeschrieben werden, den Qualen der Liebe. Gott quält die wenigen, die nicht sündigen, und sichert ihnen damit einen höheren Rang in der nächsten Welt zu.
    Atara hörte auf mitzuschreiben. Sie wartete nicht, bis Rabbi Braunsdorfer sie aufrief.
    »Schaut der Herr etwa untätig zu, wenn Kinder verbrennen?«
    Köpfe drehten sich nach ihr um.
    Rabbi Braunsdorfer schob seinen Stuhl zurück.
    Die Glocke läutete.
    Rabbi Braunsdorfer schlug seine Bibel zu und stieg vom Lehrerpult. Es war Pause, und die Mädchen im Klassenzimmer machten sich wie üblich mit lautem Geschrei Luft. Ataras Puls beruhigte sich.
    Es war nichts passiert. Sie hatte eine richtige Frage gestellt, und es war nichts passiert.
    Als Atara aus der kleinen Bibliothek unterm Dach kam, stieß sie fast mit dem Direktor zusammen, der sich gerade aufrichtete, als habe er mit dem Ohr an der Tür gelauscht. Sie standen sich im Flur gegenüber: Atara im karierten Kleid mit Spitzenkragen, der Direktor im grauen Anzug und mit grauem Spitzbart. Für einen Mann war er klein gewachsen. Er sah Atara nicht in die Augen, sondern fixierte einen Punkt hinter ihrer rechten Schulter. Als er schluckte, hob sich sein Spitzbart.
    »Nur smutzige Hände fassen heilige Texte ohne bewährte Erklärungen an.« Sein Englisch hatte einen schweren Akzent.
    »Wie bitte?«
    Er wiederholte es langsam und deutlich: »Nur smutzige Hände fassen heilige Texte ohne bewährte Erklärungen an.«
    Schmutzige Hände? Sie hatte heilige Bücher gelesen, keine verbotenen.
    »Darf ich nicht in die Bibliothek?«
    »Manche meinen: Ich muss dies nicht lernen, doch ich lerne es freiwillig.« Während er sprach, bewegte sich seine rechte Hand in Kreisen. »Gleichwohl, es ist nicht besser. Wer studiert, was die Lehrer nicht aufgegeben haben, treibt Denksport – wie Kreuzworträtsel oder Schach. Doch in dieser Schule wollen wir den Geist nicht anregen.«
    »Nein?«
    »In dieser

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