Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
Vom Netzwerk:
חישמ (Messias) ergeben die Summe 358, was dem Zahlenwert von שחנ (Schlange) entspricht.« Dann steuerte sie auch gleich die entsprechende Auslegung bei: Diese Gleichung bekräftige die Annahme, dass Erlösung und Sünde einander nicht ausschlössen. Fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen, sagt der Herr zu Jakob. Jakob muss nach Ägypten ziehen, bevor er ein großes Volk gründen kann. Erniedrigung zum Ziel der Erhöhung.
    Erlösung durch die Sünde sei ein Hinweis auf die messianische Zeit.
    Das Schönste in der Seminarschule war für Mila die dritte Sabbatmahlzeit, nach der die Mädchen sangen und die Königin Sabbat tanzend umkreisten, um sie noch eine kurze Weile bei sich zu behalten. Prophet Elias, komm zu uns mit dem Messias, sangen sie im letzten Glühen vor dem Sonnenuntergang, und Mila begann zu träumen: Welche von ihnen würde den Messias gebären, den Sohn des David? Welches der Mädchen würde die Welt von allem Leid erlösen?
    Jahrelang hatte zwischen den Mädchen gestanden, dass Atara säkulare Bücher las, deshalb genoss es Mila jetzt umso mehr, mit Atara zusammen zu lernen. Sie liebte und bewunderte Atara dafür, dass sie jede einzelne Seite des Mikraot Gedolot, der um Kommentare ergänzten Bibel, las und nicht nur das, was man ihnen aufgegeben hatte. Die Lehrer gewöhnten sich an, immer Atara aufzurufen, wenn schwer verständliche Textstellen erklärt werden mussten, und die Klassenkameradinnen suchten während der gemeinsamen Lernstunden ihren Rat.
    Doch obwohl Atara sich wirklich Mühe gab, befürchtete Mila, dass ihr Eifer nicht von Dauer sein würde. An der starren Körperhaltung, mit der Atara den Vorlesungen der Rabbiner folgte, erkannte Mila, dass sie die Ausführungen als unbefriedigend empfand.
    Als Atara eines Morgens vom Lehrer aufgerufen wurde, eine rabbinische Auslegung zusammenzufassen, begann sie die Qualität des Kommentars laut in Frage zu stellen. Der Lehrer rieb sich die Augen. Mila biss sich auf die Lippe. Im Klassenzimmer wurde es still. »Nächster Vers«, rief der Lehrer.
    An einem anderen Tag meldete sich Atara zu Wort und fragte, wie Raschi zu einer bestimmten Interpretation gekommen sei. »Eine Schande, dass du kein Junge bist!«, hatte der Rabbi gerufen. In der Klasse wurde es so verstanden, dass Jungen gute Köpfe zum Thora-Studium brauchten, und nicht Mädchen. Dann zitierte der Rabbi eine andere Raschi-Passage, die zur selben Auslegung kam, und ging zum nächsten Bibelkommentator über.
    »Er hat die Interpretation wiederholt, aber er hat sie nicht erklärt«, flüsterte Atara Mila ins Ohr.
    Dem Rabbi entgingen Ataras kritischer Blick und ihr Flüstern nicht. »Kann es sein, dass du Raschi etwas hinzuzufügen hast?«, fragte er.
    Die Klasse lachte.
    Doch dann kam wieder der Sabbat, und sie sangen und tanzten. Einige Mädchen im Seminar hatten von Zalmans Stimme gehört und baten Atara, ihnen vorzusingen. Nachdem die Mitschülerinnen Ataras Stimme einmal gehört hatten, wurde Atara jeden Freitagabend zum Singen aufgefordert. Die ersten Takte waren noch unsicher und zittrig, doch dann schwang sich ihre Stimme frei empor. Einige Mädchen schlossen die Augen. Als das Lied zu Ende war, stellten sie sich hintereinander auf, um Atara die Hand zu schütteln. »Möge die Kraft dir bleiben!« Mila erkannte in Ataras Gesang Zalmans Modulationen wieder und war zuversichtlich, dass sich Atara mit ihrer Rolle als Tochter Zalmans arrangieren und sich in die Reihe der vergangenen Generationen stellen würde.
    *
    Mila und Atara saßen in der kleinen Bibliothek unterm Dach und lernten, als die Tür leise einen Spalt weit aufging. Ein grauer dreieckiger Spitzbart schob sich kurz zwischen Tür und Rahmen, war aber im nächsten Moment schon wieder verschwunden. Die Mädchen unterdrückten ein Lachen. »Was er wohl will?«, flüsterte Atara und wandte sich wieder dem Mikraot Gedolot zu. Mila jedoch konnte sich nicht mehr konzentrieren. Ihr fiel die tiefe Stille auf, die um sie herum herrschte. Wieder einmal waren Atara und sie die Letzten, die nach der Lernzeit noch im Schulhaus saßen. Alle anderen Mädchen waren bereits in den Schlafzimmern und machten sich bettfertig.
    »Atara?« In der Stimme des Rabbiners lag keine Wärme mehr, wenn er sie im Unterricht aufrief.
    Ängstlich überlegte Atara, wie sie ihre Frage formulieren sollte. Wenn die Bibel befiehlt, in Kriegszeiten Babys und Tiere zu töten …? Ob das ein guter Einstieg wäre? Oder doch besser so: Wenn Gott sagt,

Weitere Kostenlose Bücher