Ich bin verboten
keinen Platz freigehalten – jetzt würden sie das ganze Semester lang getrennt sitzen. Um einen anderen Platz zu bitten, hätte unfreundlich gewirkt.
Als die Pausenglocke läutete, wurde Mila von ihren Banknachbarinnen mit in den Speisesaal gezogen und an einen Tisch bugsiert. Die Cousinen ergingen sich in den höchsten Tönen über Rabbi Braunsdorfers Intellekt und Witz und beteuerten immer wieder, dass seine Vorlesung über jüdisches Denken die erbaulichste von allen sei.
Mila sah, dass am Tisch kein Platz mehr für Atara frei war. Als sie den Speisesaal betrat, spürte Mila einen schweren Druck auf der Brust. Später würden sie kaum noch den Tisch wechseln können.
Atara fand einen freien Platz weiter hinten.
Als Mila sich zu ihr umblickte, zerpflückte Atara gerade eine Brotscheibe. Sie zerdrückte die Krümel zwischen den Fingern und rollte sie zu Kügelchen. Mila schob den Stuhl zurück und stand auf.
»Aber Mila, du musst das Tischgebet am selben Tisch sprechen, an dem du das Brot gesegnet hast!«
Milas Hände umkrampften die Tischkante. Es war wichtig, neue Freundschaften zu schließen. Es war unreif, alles mit Atara machen zu wollen. Sie sank auf ihren Stuhl zurück.
Sissi fuhr mit ihrer Erzählung fort: »Wir haben dir doch von unserem Pessachausflug an den Genfer See erzählt …«
Mila schaute nach hinten. Ein L3-Mädchen flüsterte Atara etwas ins Ohr. Atara hörte auf, Brotkügelchen zu rollen, und wischte die Krumen weg. Es war verboten, Brot zu vergeuden.
Am Sabbat wollte Atara Mila zu ihrem wöchentlichen Spaziergang abholen, doch Mila war bereits eingeladen worden, im Hause eines Rabbiners aus dem Lehrkörper die Kinder zu hüten. Milas Zimmerkameradinnen erinnerten Atara daran, dass es eine gute Tat war, auf die Kinder eines Lehrers aufzupassen, außerdem könne man schon für später üben.
Mila kam gerade noch rechtzeitig zur dritten Sabbatmahlzeit zurück.
Als die Mädchen sich von ihren Plätzen erhoben, um einen Kreis um die Heiligkeit des Sabbats zu bilden, fassten Sissi und Goldie nach Milas Händen, während Mila suchend nach Atara schaute. Sie entdeckte sie in Nähe der Tür. Mit flehendem Blick bedeutete sie Atara, sich in den Kreis zu reihen, doch der hatte sich schon zu drehen begonnen, und Mila bewegte sich zwischen Sissi und Goldie immer schneller von Atara weg. Alle drei Schritte machten die Mädchen einen Hüpfer.
Atara fiel Sissis Haarband in Milas Haaren auf.
Noch als sie die Treppe zur kleinen Bibliothek hochstieg, hörte sie den Gesang der Mädchen. Sie schlug den Mikraot Gedolot auf. Die Dämmerung senkte sich über den Raum, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Sie schwebten empor über die Seiten, drehten und wendeten sich und hüpften im Kreis. Atara drückte die Hand fest auf das offene Buch. Die Buchstaben kehrten an ihren Platz zurück – oben und in der Mitte der Seite der Bibeltext, die Auslegung an den Rändern und unten.
Sie begann zu lesen, doch die Buchstaben bewegten sich schon wieder. Die vor vielen Jahrhunderten geschriebenen Zeilen stellten sich in Reih und Glied und marschierten gemeinsam los, bildeten einen Kreis um Ataras Zukunft und umtanzten sie im immerwährenden Gleichschritt des Glaubens. Es würde sich niemals etwas verändern, nichts Neues seit Moses auf dem Sinai.
Doch dann entwischte ein Buchstabe, schraubte sich in die Höhe und schwebte aus dem Zimmer heraus. Bald stiegen auch andere in die Luft und wirbelten in verschiedene Richtungen davon. Atara drückte beide Hände fest aufs Buch, doch die Buchstaben stiegen weiter auf und flogen davon. Sie hüpften, entfalteten sich zu offenen Formen, drehten und wendeten sich, bis sie zu den verbotenen Gedichten und mathematischen Formeln des Lyzeums zusammenfanden. Labore, Experimente, Destillierkolben, modische Glockenröcke, die in strahlend hellen Galaxien am Horizont schwangen … Ach, all der Tand von Menschenhand!
Ob Zalman ihr jemals ein Studium erlauben würde? Das Baccalauréat? Oder auch nur die Rückkehr ans Lyzeum? Vielleicht, wenn sie ihm erzählte, dass sie es wirklich versucht hatte am Seminar?
Und nach dem Baccalauréat würde sie ihn dann um Erlaubnis bitten zu studieren. Nicht Kunst, viel zu frivol, auch nicht Literatur, denn da musste man selbstständig denken, und schon gar nicht Philosophie. Aber Medizin? Wenn sie fragen würde, ob sie Medizin studieren durfte … Ein Leben nach dem Vorbild Albert Schweitzers in Afrika wäre doch sicher wertvoll. Und
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