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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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sich im Stuhl zurück. »So, meine Thoraschülerinnen, jetzt will ich wissen, was ihr gelernt habt. Erzählt mir alles.«
    Mila schaute zu Atara hin. »Wenn wir jetzt den Tanach aufschlagen, lesen wir nicht nur Raschi, sondern auch Sforno, Ibn Ezra und …«
    Hannah wollte aufspringen, um einem der Kleinen eine Münze abzunehmen, die er sich gerade in die Nase schieben wollte.
    Doch Atara war schneller. »Bleib sitzen, Mama!«
    Jeden Morgen schmiedeten Mila und Atara Pläne und entwarfen Strategien, um Hannah mit ihrem dicken Bauch möglichst zu schonen. Sie übernahmen den großen Pessachputz. Von frühmorgens bis spätabends jagten sie jedem gesäuerten Brotkrümel nach. Singend kratzten sie die Ritzen im Parkett aus und putzten hinter Regalen und Sesseln. Sie sangen französische Lieder, die bei Atara Heimweh nach dem Lyzeum weckten, und sie sangen die neuen Lieder aus der Seminarschule, die Mila am liebsten mochte. Hin und wieder hüpfte Mila zu Atara hinüber und drückte ihr einen Kuss auf die Wange – beste Freundinnen, Schwestern fürs Leben. Und Atara küsste zurück: fürs Leben.
    Manchmal kam Mila beim Singen aus dem Takt. Atara hielt ihren Ton und wartete, dass Mila wieder mit einfiel, doch Mila stürmte aus dem Zimmer.
    Mehr als deinen Ruf hast du nicht, armes Waisenkind.
    Im Seminar, wo sie alle ohne Eltern waren, hatte Mila sich weniger als Waisenkind gefühlt, doch der Direktor hatte sie daran erinnern müssen.
    Mila beugte sich über die Wiege und presste ihre Wange gegen die weiche Haut des Babys. Als sie ihm in die großen Augen schaute und es unterm Kinn kitzelte, worauf es vor Verzückung gluckste, schwammen ihre Augen in Tränen.
    »Milenka, das Kleine braucht seinen Schlaf«, mahnte Hannah.
    Mila trat von der Wiege weg.
    Und wenn der Herr das Kleine forderte? Auf Zehenspitzen schlich Mila zurück zur Wiege. Das Baby krähte und strampelte mit Armen und Beinen. Mila verschränkte die Arme vorm Körper und wiegte sich hin und her. Sie beugte sich über die Wiege und küsste das Baby heftig vom Kopf bis zu den winzigen Zehen. Nein, dieses Baby würde der Herr nicht fordern.
    Während der mittleren Pessachtage überredeten die Mädchen Hannah, sie in den Jardin du Luxembourg zu begleiten. Als sich Hannah auf eine Parkbank setzte und ihr blasses Gesicht der Sonne entgegenhielt, als sie tief einatmend den Magnolienblüten zusah, wie sie zu einem weißrosa Muster auf den Frühlingsrasen fielen, waren Mila und Atara euphorisch: Hannah kostete das Leben, das diesseitige Leben. Doch es war schnell vorbei mit der Ruhe. Mama wurde ständig gebraucht, irgendwo von irgendjemandem, dringende, drückende Pflichten, die schwerer wogen als das Bedürfnis nach Ruhe. Hannahs plötzliche Hast riss die Mädchen aus dem Paradies. Die Mutter packte die Hand eines kleinen Geschwisterchens und schleppte sich mit ihrem schweren Bauch durch die Magnolienallee, während die anderen Mütter auf den Parkbänken saßen.
    Der Tag der Rückkehr ins Seminar näherte sich. Mila wurde immer unsicherer. Was sollte sie tun? Sie überlegte hin und her. Was erwartete der Direktor von ihr? War Atara in Gefahr?
    Als Erster reiste Schlomo zu seiner Jeschiwa ab, dann begannen die Mädchen zu packen.
    Hannah rief sie zu sich ins Wohnzimmer. Sie öffnete die dunkle Walnusskommode und zeigte ihnen feine Steppdecken und weiße Nachthemden, die hübscher waren als alles, was Mila und Atara jemals getragen hatten. »So der Herr will, wird die Kommode bald voll sein.« Hannah küsste die Mädchen und mahnte sie, an ihren Ruf zu denken. Als das Taxi um die Ecke bog, stand die ganze Familie auf dem Balkon. Der Herr segne euch. Möge Er eure Schritte behüten …
    *
    Sie bekamen neue Zimmer zugewiesen. Mila wohnte jetzt mit den beliebtesten Mädchen des Seminars zusammen, zu denen auch zwei Cousinen aus reichen Familien gehörten, die die Kriegsjahre in der Schweiz verbracht hatten.
    Atara kam in ein Zimmer mit Mädchen, die besonders viel und lang beteten. Sie waren sehr ruhig und wurden jedes Mal rot, wenn sie einen Bibelvers vorlesen sollten; es waren Mädchen, die niemals die Hand strecken würden, um eine Frage zu stellen.
    »Mila, komm hierhin!« Die beiden Schweizer Cousinen Sissi und Goldie saßen in der ersten Reihe des neuen Klassenzimmers und deuteten auf den leeren Stuhl zwischen ihnen.
    Mila bemerkte nicht, dass Atara gerade ins Klassenzimmer getreten war, sie sah auch nicht deren überraschten Gesichtsausdruck. Mila hatte Atara

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