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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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erwachsen, eine junge Frau, und bald wird es die Aufgabe deines Ehemanns sein, über solche Dinge zu entscheiden, aber bis dahin ist es meine Pflicht, auf dich aufzupassen – selbst gegen deinen Willen. Ich muss dafür sorgen, dass du den Namen unserer Familie nicht in den Schmutz ziehst und deine Zukunft genauso gefährdest wie die deiner Geschwister.«
    »Tatta, ich habe es wirklich versucht. Ich habe über ein Jahr lang keine falschen Bücher mehr gelesen.«
    »Du bist unter schlechten Einfluss geraten und wirst sicher wieder Vernunft annehmen, anderenfalls muss ich dich bis zu dem Tag, an dem du unter den Hochzeitsbaldachin schreitest, hier in der Wohnung einsperren. Hör mir genau zu: Wenn du dich nicht an die Weisungen deines Vaters hältst, wird dir alles missglücken, was du im Leben anfängst. Du wirst immer tiefer sinken. In deiner Verdorbenheit wirst du rastlos durch die Welt ziehen und niemals ein Zuhause finden.«
    Es waren die letzten Sommernachmittage im Jardin du Luxembourg. Während Mila auf dem Spielplatz die Kinder beaufsichtigte, lief Atara unruhig um das Wasserbecken herum und streifte durch die von Gelächter erfüllten Alleen entlang des Parkzauns. Sie passte ihre Schritte den Schritten von Fremden an, um im Gleichklang mit ihnen in andere Leben geführt zu werden. Den Briefträger auf seinem Fahrrad beneidete sie um die Reifen, die den Kies küssten; sie beneidete ihn, weil er nur eine Sprache sprach, nur ein Land kannte, nur eine Vergangenheit hatte und nur eine Zukunft.

September 1956
    »Befändest du dich unter den Großen des Volkes Israel, wäre es dir vielleicht gestattet, Fragen zur Schöpfung zu stellen. Aber uns? Uns? « Speicheltropfen schossen aus Rabbi Braunsdorfers Mund, flogen über das Rednerpult und landeten in der ersten Bankreihe. »Auf ungehörige Fragen antwortet der Gläubige: Ich weigere mich! Auf die Frage nach sogenannten Widersprüchen im Buch Genesis zollt der Gläubige dem Herrn Respekt und antwortet: Ich weigere mich – ich weigere mich, darüber auch nur nachzudenken!« Peng! Die Faust des Rabbiners landete mit einem lauten Knall auf dem Rednerpult. Pause. Seine Stimme sank zu einem Flüstern: »Mit unserer geliebten Thorale gibt uns der Herr alles, was wir wissen müssen.«
    Atara saß auf ihrem Platz in der letzten Reihe und sah die verschiedenen Stunden zu einer einzigen Masse verschmelzen. Der Rabbiner, der ihr mit erhobenem Zeigefinger »Fragen, die uns nicht anstehen« verbot, schien weit weg zu sein und nichts mit ihr zu tun zu haben.
    Noch im Vorjahr hatte Atara sich auf die Geschichtsvorlesungen gefreut, aber in der Seminarschule waren auch Geschichtsvorlesungen Unterweisungen im Glauben. Schließlich war es mangelnder Glaube gewesen, der Pogrome und Vernichtung gebracht hatte, und wer den Zusammenhang zwischen den jüdischen Tragödien und der Sünde nicht begriff, würde nur weiteres Leid heraufbeschwören.
    Wenn sie sich zur Seite beugte, konnte Atara bis zu Mila in der ersten Reihe sehen. Folgte Mila der Vorlesung, war ihr Rücken gerade; begann sie zu träumen, sackte sie in sich zusammen oder stützte das Kinn auf. Für Mila war die Vorstellung einer geordneten Welt, in der die Sünde das Leid erklärte, tröstlich. Manchmal drehte sie sich zu Atara um, doch ihre langen Wimpern senkten sich, bevor sich ihre Blicke begegnen konnten. Wenn sie gewissenhaft mitschrieb, neigte Mila den Kopf, und ihr Nacken schimmerte durch die Haarsträhnen, die sich aus der von Sissi abgeschauten Bienenkorbfrisur gelöst hatten.
    Atara begann die Lernstunden am Nachmittag zu schwänzen. Wenn die Mädchen nach dem Mittagessen aus dem Speisesaal strömten, stahl sie sich fort. Sie lief weit über die Kreuzung von Bewick und Eyre hinaus, weiter, als sie auf ihren Sabbatspaziergängen mit Mila jemals gekommen war.
    Auf einer Anhöhe spuckte ein hoher Schlot eine orangefarbene Flamme aus. Sie machte kehrt.
    Die Tür einer Kneipe flog auf, und eine zusammengekrümmte Gestalt torkelte heraus. Die Hände schützend vor die Zigarette im Mundwinkel gehalten, blieb der Mann schwankend am Kotflügel eines Autos stehen. Aus der Kneipe drangen Liedfetzen über einen Kanarienvogel, der in einer Mine verstummt, auf die Straße. In einem anderen Leben hätte Atara gewusst, worum es in dem Lied über den Kanarienvogel ging, sie hätte mit den Menschen reden können; doch in diesem Leben durfte sie sich nicht dabei erwischen lassen, wie sie mit Nichtjuden sprach. Atara ging weiter. Die

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