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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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Straße endete an einer Abraumhalde. Sie machte wieder kehrt.
    Ein Lastkahn ächzte flussabwärts. Am teerschwarzen Ufer beugten sich blau gekleidete Arbeiter über Feuer in Blechfässern – kleine Höllen in der Abenddämmerung.
    In der Hauptstraße scherte ein Auto knapp an Atara vorbei und bespritzte ihren Mantel.
    Kaum hatte sie den Straßenblock mit der Seminarschule erreicht, hörte sie auch schon die im Tanz stampfenden Füße der Mädchen. Was würden die Passanten denken? Ob sie sich fragten, was für eine Lebensform zu so viel Gesang und Tanz berechtigte? Man hörte, wie Esstische an die Wände geschoben und Stühle aufeinandergestapelt wurden. Atara seufzte erleichtert. In der Aufregung über die Verlobung einer Mitschülerin würde niemand ihre Abwesenheit bemerkt haben. In der freigeräumten Zimmermitte bildeten die Mädchen Kreise; der eine Kreis schaute ins Zimmer, der andere nach außen. Sissi, Mila und Goldie hatten sich im Tanz die Arme über die Schultern gelegt.
    Ein Mädchen aus ihrem Jahrgang erblickte Atara und löste sich aus dem Kreis. »Ich habe dich gesucht. Gepriesen sei der Herr, dass du wieder da bist …«
    Die Ausdrucksweise der Mädchen, die vorgefertigten Redemuster, das alles ging Atara unendlich auf die Nerven.
    »Atara ist da!«, rief eine Stimme.
    »Wird sie singen? Wird Atara singen?«
    »Jetzt nicht«, flüsterte Atara an niemanden gewendet.
    »Atara wird singen!«
    Atara trat zurück.
    »Es ist eine Mizwa, zu so einem erfreulichen Anlass glücklich zu sein«, rügte ein L3-Mädchen an der Tür Atara.
    Am liebsten hätte Atara das Singen unterbrochen und mit lauter Stimme zu den Mädchen gesprochen. Alle sollten sie hören, was sie in der Pariser Bibliothek gelesen hatte: Die Nazis hätten viel früher besiegt werden können, wenn die verschiedenen Kräfte sich zusammengetan hätten. Doch die religiösen Führer, die nichts so sehr fürchteten wie die Assimilation, hatten sich gegen die Bolschewiken gestellt, die die Nazis bekämpften, und sie hatten sich geweigert, mit weniger religiösen oder säkularen Juden zusammenzuarbeiten. Ataras Mund ging auf, doch heraus kam nur ein Geräusch, das dem Blöken eines Schafes glich. Sie schlug sich die Hände über die Ohren, um das Echo des Blökens nicht zu hören, und stolperte nach draußen.
    Jeden Morgen beim Aufwachen sah sich Atara mit demselben Dilemma konfrontiert. Wie konnte sie einen Chassiden heiraten, der von seiner Ehefrau eine chassidisch-orthodoxe Lebensführung erwartete? Wie sollte sie Kinder aufziehen, denen es verboten sein würde, säkulare Bücher zu lesen?
    Wenn sie die Treppe zu den Klassenzimmern hochstieg, bekam sie Wadenkrämpfe. Wenn sie vor dem Mikraot Gedolot saß, begann ihr Schädel zu jucken.
    Wäre es nicht besser, selbst den Tod zu wählen und gleich auf der Stelle zu sterben?

März 1957
    Mila und Atara waren eineinhalb Jahre in der Seminarschule, als der Direktor Atara eines Tages in sein Büro bestellte. Zalman hatte geschrieben, dass Hannah eine schwierige Schwangerschaft habe. Der Arzt hatte strenge Bettruhe verordnet, deshalb bat er darum, eines der Mädchen nach Hause zu schicken. Der Direktor war der Meinung, dass Atara gehen sollte. Mila solle noch eine Weile vom Unterricht an der Seminarschule profitieren, denn womöglich würde sie das L2-Jahr nicht mehr abschließen. Es seien Anfragen über sie eingegangen …
    »Verlobt sich Mila?«
    »Psst … Nur Anfragen. Du darfst Milas Seelenfrieden nicht stören.«
    Atara packte gerade ihre Sachen, als Mila angerannt kam.
    »Tante Hannah geht es nicht gut? Dann komme ich mit. Keine Widerrede!«
    Die Mädchen stiegen in den Zug nach London. Sie blickten über die vielen Sitze mit abgenutzten Polstern, manövrierten ihre schweren Koffer in eine leere Reihe und setzten sich in die Reihe dahinter.
    »Was meinst du, ist Tante Hannah wohl schwer krank?«, fragte Mila.
    »Nein. Sicher ist es so, wie mein Vater geschrieben hat: Sie hat eine schwierige Schwangerschaft und braucht Hilfe mit den Kindern und beim Kochen. Wenn es wirklich ernst wäre, hätte er darum gebeten, dass wir beide heimkommen. Mach dir keine Sorgen, Mila.«
    »Warum bist du dann so aufgewühlt?«
    »Ich bin nicht … ich … Mila, fühlst du dich bereit zu heiraten?«
    Mila zog eine Schulter hoch und ließ sie wieder fallen. Lächelnd strich sie sich den neuen, kurzen Pony aus der Stirn.
    »Ich fühle mich noch nicht dazu bereit. Kein bisschen«, sagte Atara.
    Die Mädchen schauten auf

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