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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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ab?«
    »Auch der Messias wird von ihr abstammen. Bevor Juda die Thamar erkannte, gab er ihr einen Siegelring zum Pfand. Im Midrasch steht, auf dem Siegel sei ein Löwe abgebildet gewesen, ein Hinweis darauf, dass aus dieser Verbindung der königliche Stamm Israel entspringen würde, der Löwe von Juda.«
    Mila blätterte zu einem Kommentar zurück und übertrug ihn in ihr Notizbuch:
    Um ein heiliges Werk zu vollbringen, ist es manchmal notwendig, den Satan dahingehend zu täuschen, dass er meint, das heilige Werk sei wie er selbst: satanisch. Manchmal ist es notwendig, ein heiliges Werk als Sünde zu verkleiden. So haben es Rebekka, Jakob, Juda und Thamar gemacht … Rebekka und Jakob haben Isaak getäuscht. Jakob hat zwei Schwestern geheiratet. Thamar hat bei ihrem Stiefvater gelegen, und doch hat Thamar den Stamm des König David hervorgebracht, von dem es heißt:
    siehe, david war schön anzusehen, von allen menschen liebte der herr ihn am meisten
    Darunter schrieb Mila zwei Worte und kreiste sie ein: Nem mir.
    Zwei Worte, mit denen Mila den unseligen Kasztnerzug in die Geschichte hineinbrachte. Von dem Moment an gehörte für sie alles zusammen, es war ein und dieselbe Geschichte: Thamar, Juda, der Rebbe – jeder von ihnen hatte ein gutes Werk in eine satanische Verkleidung gehüllt.
    Die Numerologie, die Mila schon in der Seminarschule so fasziniert hatte, floss nun von den Rändern ihrer Bibel über und in ihr Buch der Tage hinein. Dort versuchte sie selbst, die Zahlenwerte der Wörter zu addieren und zu interpretieren.
    רהתו , vetahar (und sie ward schwanger) hatte den Zahlenwert 611, der sich folgendermaßen addieren ließ → 6 + 1 + 1 = 8.
    Acht Kinder?
    םיניע , enaim, hatte den Zahlenwert 740, der sich zu → 7 + 4 + 0 = 11 → 1 + 1 = 2 addierte.
    Zwei Kinder?
    War es möglich, dass sie zwei Kinder bekommen würde, wenn sie ihre Augen offenhielt und erkannte, was der Herr ihr zeigen wollte? Zwei Kinder waren für eine Frau in Williamsburg nicht viel, die meisten hatten viel mehr, doch sie würde unendlich dankbar sein.
    Aber vielleicht musste sie die Summe aus bepetach enaim bilden? Oder besser nur aus petach, da be ja eine Präposition war? Petach hatte den Zahlenwert 488 → 4 + 8 + 8 =2 0 → 2.
    Wenn sie vor dem Tor von Enaim säße, würde sie dann zwei Kinder bekommen? Nein, sie würden zu zweit bleiben, Mila und Josef, allein …
    In den langen, einsamen Stunden in der Wohnung zählte Mila blutige und reine Tage und bildete immer wieder neue Summen. Manchmal hatten die Buchstaben den Zahlenwert 8, dann 4, dann 2 …
    Mila las nicht mehr in der Bibel, sondern vergrub sich voller Verzweiflung in ihr. Die Verse im Buch Genesis waren für sie nicht mehr Heilige Schrift und Gesetz, sondern eine Geschichte, an die sie sich klammerte, um zu überleben – ihre Geschichte. Tagsüber bohrte sie sich in die Worte, um ihren Schoß zum Leben zu erwecken; am Abend hielt sie Thamars Hand fest, damit sie ihr auch im Schlaf nicht entgleiten würde.

1968
    Paris
    Im zehnten Jahr ihrer Ehe reisten Mila und Josef erneut nach Paris, um das Pessachfest mit den Sterns zu feiern. Während des Flugs durchblätterte Mila die Zeitschriften, die von der Stewardess verteilt wurden: Bilder des erschossenen Martin Luther King, Bilder von einem Krieg in Vietnam, Bilder von den Straßenkämpfen in Paris, von Frauen, die auf die Straße gingen und ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Wie Thamar.
    Enaim → 2. Petach → 2.
    Und Paris?
    זיראפ (Paris) → 298 → 2 + 9 + 8 = 19 → 1 + 9 = 10 → 1 + 0 = 1.
    Ein Kind? Wenn sie in Paris vor enaim säße, wenn sie ihre Augen offenhielt, würde sie dann ein Kind bekommen?
    Kurz vor dem Stadtzentrum wurde das Taxi von Polizisten in Kampfausrüstung angehalten. Mila erklärte, dass ihre Familie in einer Seitenstraße der Rue de Rivoli im Marais lebe. Der Polizist winkte sie durch. Das Taxi bewegte sich langsam an dunkelblauen Polizeibussen mit verdunkelten Fenstern vorbei. Überall, an den Fassaden, auf Verkehrsschildern, in den Bushaltestellen, klebten Plakate mit fetten roten und schwarzen Druckbuchstaben. Bald sollten die Parolen des Frühjahrs ihren Weg in Milas Notizbuch finden:
    Le droit de vivre ne se mendie pas, il se prend
    (Bitte nicht um das Recht zu leben, nimm es dir)
    On ne matraque pas l’imagination
    (Die Fantasie lässt sich nicht niederknüppeln).
    Und überall auf den Rändern ihres Notizbuches stand:
    siehe, david war schön anzusehen, von allen

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