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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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menschen liebte der herr ihn am meisten.
    Das Taxi bog um eine Ecke. Mila rannte die drei Stockwerke hoch und in Hannahs Arme. Nach Tee und Kuchen fragte Mila: »Darf ich jetzt?«, aber dieses Mal antwortete Hannah nicht wie üblich »Geh nur, Kind.« Dieses Mal erklärte Hannah ihr die Situation: »Draußen auf der Straße ist es nicht sicher. Die Gojim protestieren gegeneinander. Bleib besser hier.«
    Mila ging auf den Balkon. Auf einem Dach flatterte eine schwarze Flagge. Etwas weiter weg waren zwei rote Flaggen zu sehen. Die ganze Zeit heulten Sirenen. Josef trat neben Mila. Er wollte den Moment mit ihr allein nutzen, um ihr zu sagen, dass er einen Rabbiner in Paris konsultieren würde, der nachsichtiger war als der Rebbe und einem Samentest vielleicht zustimmte.
    Mila schaute auf ein Plakat an der Wand des Hauses gegenüber.
    »Nous sommes tous des juifs allemands«, las sie vor. »Wir sind alle deutsche Juden.«
    »Was wollen sie damit sagen?«
    »Vielleicht … vielleicht wollen sie die Vergangenheit ungeschehen machen. Schau mal, auf dem Plakat dort drüben ist dasselbe Gesicht abgebildet. Libérez Cohn-Bendit, steht darunter. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Ob sie die Welt verbessern wollen?«
    »Josef, kennst du diese Baraita schon?«, rief Zalman aus dem Studierzimmer. »Bei Jismach Mosche heißt es …«
    Mila und Josef traten zurück ins Zimmer, und Josef kam nicht mehr dazu, mit Mila über den Test und seinen Entschluss zu sprechen. Mila hob Hannahs Jüngstes hoch, sog den Kleinkindduft ein und setzte es dann völlig unvermittelt wieder ab. Sie riss die Haustür auf und polterte die Treppe hinab.
    Die Demonstration wurde am linken Ufer eingedämmt. Die Brücken, die Pont Louis-Philippe und die Pont Marie, waren gesperrt, doch Mila, von einer inneren Unruhe getrieben, wollte die Studentenproteste sehen. Sie rannte in Richtung Süden, überquerte die Pont de Sully und lief dann zurück nach Norden zum Boulevard Saint-Michel. Ein Polizist hielt sie an.
    »Ma p’tite dame! Il faut rentrer chez vous!«
    In ihrem roséfarbenen Kostüm mit perlgrauer Paspelierung und dem perlgrauen Pillbox-Hut gehörte sie eindeutig nicht ins Quartier Latin. Nicht an diesem Tag, nicht zu diesen Demonstrationen.
    Mila stellte sich auf die Zehen, um über die Schulter des Polizisten blicken zu können und die Rufe der Studenten besser zu verstehen.
    Der Knüppel begann zu schwingen.
    »Mila!«
    Sie wirbelte herum.
    Josef hatte ihre Abwesenheit gespürt und war ihr gefolgt, jetzt kam er keuchend angerannt. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber vor lauter Sirenengeheul und dem Lärm der immer wieder neu aufbrandenden Sprechchöre verstand sie ihn nicht. Sie stellte sich vor, dass er sagte: »Aber wir sind heilig. Auserwählt. Unser Anliegen sind die sechshundertdreizehn Gebote Gottes …«
    Mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst überraschte, hatte Mila sich wieder umgedreht und war hinter der Absperrung verschwunden. Josef wollte ihr folgen, doch die Spitzen von zwei Schlagknüppeln bohrten sich in seine Brust. »Mila!«, brüllte Josef. Die Schlagstöcke drückten fester.
    Der auf und ab hüpfende Pillbox-Hut entschlüpfte dem eng gespannten Netz dunkelblauer Polizeiuniformen.
    »Mila! Mila! Mila!«
    Schlingernde, delirierende Tentakel griffen nach ihr und trugen sie weiter. Fäuste stießen in rasender Wut und Erregung in die Luft. » C-R-S S-S! «, skandierten die Studenten. Milas Arm fuhr ebenfalls hoch. Ihre Stimme, die sich nicht in der Öffentlichkeit erheben sollte und schon gar nicht vor anderen Männern als ihrem Ehemann, schwoll an. Sie wurde mitgerissen in einem Strom, der sich über alle Barrieren hinwegwälzte, und ihre verbotene Stimme reihte sich ein in den Chor der vielen und rief immer lauter: » C-R-S S-S! «
    Josef trat von der Polizeiabsperrung zurück, rannte in eine Nebenstraße und weiter in die nächste. Alle Zugangswege zur Demonstration waren abgesperrt. Bitte, Mila, das ist gefährlich. Du leidest, ich habe versucht dir zu sagen … ich will überlegen, ob ich … den verbotenen Test … Im Gedränge wurde er in eine offene Tür geschoben. Atemlos und desorientiert setzte er sich auf eine Bank. Guter Herr, beschütze Blimela, Tochter der Rachel, lass sie unversehrt bleiben an Körper und Seele, nicht für mich, sondern im Namen Abrahams, Isaaks und Jakobs …
    War sie weggerannt, weil das zehnte Jahr ihrer unfruchtbaren Ehe angebrochen war? Hatte sie Angst, dass er sie verlassen

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