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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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in die Unruhen geraten.«
    »Aber warum? Warum seid ihr nach draußen gegangen?«
    »Wir … ich war neugierig«, sagte Josef. »Ich wusste nicht, dass es … dass es so sein würde.«
    Es war das erste Mal, dass Josef für Mila log.
    Ganz Frankreich befand sich im Ausnahmezustand. Die Polizei besetzte die Sorbonne und zog wieder ab. Die Studenten eroberten die Sorbonne zurück, worauf es auf den Straßen wieder ruhiger wurde. Nach ihrem Ausflug in die Pariser Krawalle am Abend ihrer Ankunft verließ Mila nicht mehr das Haus. An jenem Abend hatte sie geglaubt, zur Welt dort draußen zu gehören, und hinter diesem Gefühl konnten nur ihre bösen Neigungen stecken. Sie betete dafür, dass die Thora ihr eine Festung sein möge – aus echten Betonmauern und nicht nur metaphorisch –, an der die Sprechchöre und Slogans zerschellten.
    Die Tage zogen ins Land, und die Heimreise nach Williamsburg rückte näher. Josef war verzweifelt. Er hatte so viele Hoffnungen in die Reise nach Paris gesetzt, doch jetzt wollte Mila auch hier die Wohnung nicht verlassen. »Die Straßen sind wieder sicher«, flehte er. »Geh doch in den Luxembourg, zum Palais Royal.« Sie schüttelte den Kopf: nein. Er fragte, ob er sie begleiten solle, bestand aber nicht darauf, denn er spürte, dass es ihr ein wenig peinlich war, neben ihm herzugehen. In den Straßen von Paris fiel er mit seinen Schläfenlocken und dem schwarzen Mantel auf – sie wurden angestarrt. »Willst du nicht wenigstens mit den Kindern rausgehen?« Mila schüttelte wieder den Kopf. »In zwei Wochen reisen wir ab.« »In einer Woche.« »In fünf Tagen reisen wir ab.« Sie schüttelte nur den Kopf. Nein.
    Umso näher der Tag ihrer Abreise rückte, umso verworrener wurden die Kritzeleien in Milas Notizbuch. Die Zählungen von blutigen und reinen Tagen ließen sich kaum noch entziffern, unleserlich die Temperaturkurven, Zahlensysteme, die Bibelauszüge über Thamar und Juda, die vielen »zeugte« im Buch Rut: Perez zeugte Hezron; Hezron zeugte Ram; Ram zeugte Amminadab; Amminadab zeugte Nahesson; Nahesson zeugte Salma; Salma zeugte Boas; Boas zeugte Obed; Obed zeugte Isai; Isai zeugte David …
    von allen menschen liebte der herr
    david am meisten
    Einen Tag vor der Abreise nach Williamsburg trug Mila den Anstieg der Temperaturkurve in ihr Buch der Tage ein: 37,0; 37,5.
    Sie deckte gerade den Frühstückstisch, als sie hörte, wie die Haustür aufging.
    »Hallo, geht es Josef besser?«, rief Zalman.
    Mila hielt inne.
    Jetzt stand Zalman in der Tür. »Geht es ihm besser?«
    »Ist Josef nicht bei dir?«
    »Er fühlte sich nicht wohl und hat die Synagoge vor Ende des Gottesdienstes verlassen. Ist er nicht heimgekommen?« Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Zalman rückte seine Kippa zurecht. »Blimela … das ist jetzt eine schwere Zeit für dich und Josef. Zehn Jahre …« Mila sah Zalman nicht an, sondern deckte weiter den Tisch. »Josef ist es erlaubt … man erwartet von ihm, dass er sich scheiden lässt. Blimela, solange du dich an die Gebote des Herrn hältst, ist unser Haus dein Haus.«
    Mila biss sich auf die Lippe und rannte aus dem Zimmer.
    In der Küche goss sie kochendes Wasser in die Teekanne, brachte Zalman den Tee aber nicht. Sie ging in ihr Zimmer und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett, das einst Atara gehört hatte und in dem nun Josef schlief. Dann stand sie wieder auf, griff nach ihrer Handtasche und eilte aus der Wohnung.
    Neue Parolen schmückten die Wände.
    Faites l’amour et recommencez
    (Macht Liebe und tut es gleich wieder)
    Das Sonnenlicht spielte auf den grünen Fensterläden und dem blassrosa Rauputz der Häuserfronten in der Rue Sainte-Catherine.
    Révolution, je t’aime
    (Revolution, ich liebe dich)
    Unter den Trauerweiden am Seineufer saßen langhaarige Jugendliche und spielten Gitarre.
    Le rêve est réalité
    (Der Traum ist Realität)
    Die Figur des Erzengels Michael an der Fontaine Saint-Michel im Quartier Latin trug eine rote Krawatte. Überall Haufen von Pflastersteinen, hier und da ein umgedrehtes Auto, doch die Atmosphäre war jetzt fröhlich und euphorisch. Menschen standen in Gruppen beisammen und diskutierten angeregt. Arbeiter in Blaumännern, Mädchen in Miniröcken und Jugendliche in weiten Schlaghosen – jeder redete mit jedem und überall, als sei die Stadt ein Buch und die Mauern seine Seiten:
    La Rue du possible
    (Die Straße des Möglichen)
    Mila stieg die fünf Treppen zu der Terrasse hoch, auf die

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