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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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tanzte in seinem brokatbesetzten weißen Kaftan, den weißen Strümpfen und den schwarzen Schuhen ohne Schnürsenkel. In der Hand hielt er das Ende einer weißen Schärpe, deren anderes Ende die Braut festhielt. Die Füße des Rebbe beschrieben mystische Buchstabenkombinationen vor Rachel, die sich mit geschlossenen Augen im Gebet wiegte: Mögen Shai Yankel und ich ein rechtschaffenes Paar im Volke Israel sein …
    Dann war der Vater an der Reihe, mit der Braut zu tanzen. Josef nahm Rachels Hände in seine und wippte von einem Fuß auf den anderen. Er wusste, dass dies die letzte Gelegenheit war zu sprechen, bevor die Ehe rechtsgültig wurde, bevor ein weiterer Same im Volk Israel verdorben war. In Gedanken hörte er Rachels Klageschrei beim Verlassen des rabbinischen Gerichtes: Meine Ehe ungültig? Mein Ehemann mir verboten? Er sah Rachel zu einem Häufchen Elend zusammengesunken an der niedrigen Mauer vor dem Hochzeitssaal, wie sich ihre Hände um das Revers ihrer Jacke krampften, während die Männer im Saal auf einer anderen Hochzeit tanzten.
    Dieses Kind ist unschuldig!, begehrte Josef auf.
    Natürlich war das Kind unschuldig. Weder die Thora noch die Rabbiner hatten jemals behauptet, dass die missliche Lage eines Mamsers ethischer Natur sei. Der Herr befiehlt, der Mensch gehorcht.
    Die Weisen sagten, dass diejenigen, die als Mamserim Leid ertragen müssten, beim Kommen des Messias auf goldenen Thronen sitzen würden. Tränen liefen über Josefs hohle Wangen. Goldene Throne? Rachel brauchte keinen goldenen Thron, sie brauchte ihren Shai Yankel. Für Rachel zählte nur, dass die Ehe rechtsgültig war.
    Einige Gäste hatten bereits zu flüstern begonnen. Wie kann man die Hochzeit der eigenen Tochter bloß mit so viel Trauer belasten?
    *
    Neun Monate nach der Hochzeit gebar Rachel eine kleine Tochter, die sie Judith nannte, in Gedenken an Josefs ermordete Mutter Judith Lichtenstein.
    Josefs Haut wurde grau. Welches Ausmaß an Selbstkasteiung konnte sein Schweigen jetzt noch gutmachen?
    Ihr zweites Kind nannte Rachel Chaim Yankel, in Gedenken an den Großvater ihres Mannes, der nach Auschwitz deportiert worden war.
    Josefs Nägel wurden brüchig.
    Das dritte Kind nannte sie Gershon, in Gedenken an Milas Vater.
    Ihr viertes Kind nannte Rachel Pearela, in Gedenken an Josefs kleine Schwester, und sie setzte dem Namen ein »Alte« voran, damit diese Pearela möglichst lange leben möge.
    Josefs Sehkraft ließ nach. Ihm war immer kalt.
    Als Rachel ihr sechstes Kind gebar, waren Josefs Muskeln so schwach geworden, dass er kaum noch laufen konnte. In einer seiner Hungertrancen sah er seinen Bart an einem Nagel in der Handfläche des gekreuzigten Jesus baumeln.
    Ein Eintrag im »Gedeckten Tisch«, dem rabbinischen Gesetzeskodex, bedrückte Josef, obwohl er ihn andererseits auch ein wenig erleichternd fand, da er die Aussichten für Rachels Kinder gar nicht so schlecht darstellte:
    Erklärt der Ehemann den Sohn als Mamser, wird dem nicht geglaubt, wenn der Sohn bereits selbst Söhne hat, denn dies würde den Sohn des Sohnes als Mamser beflecken, und die Thora spricht einem Ehemann nicht so viel Macht zu.
    Da Rachel jetzt eigene Kinder hatte, würde ein Gerichtshof ihm möglicherweise nicht glauben dürfen, wenn er spräche.
    Half ihm etwa das Gesetz, das Gesetz zu umgehen?
    Selbst, wenn er die Wahrheit schon immer gewusst hatte?
    In einem anderen Eintrag ging es um einen Rabbiner, der sehr weit gegangen war, damit er das Stigma des Mamsers nicht verhängen musste, und im Fall eines Ehemanns, der neun Monate vor der Geburt eines Kindes auf Reisen gewesen war, eine zehnmonatige Schwangerschaft in Erwägung gezogen hatte.
    Wenn aber die Richter ihm nicht mehr glauben durften, wäre Josef das Schicksal des Sünders beschieden, der niemals vor ein Menschengericht kam. Dann stand er auf einer Ebene mit heimlichen Schändern des Sabbats, mit Onanierern und Ehebrechern. Ihn träfe die Karethstrafe, und seine Seele würde für immer verbannt. Ewiges Exil. Ewiger Winter.
    Dasselbe würde Mila geschehen.
    Im blauen Emailletopf kochte das Wasser. Mila schüttete Haferflocken ins Brodeln, gab eine Prise Salz zu, rührte und drehte die Hitze herunter.
    »Mila?«, rief Josef.
    Der Holzlöffel hielt inne. Sie drehte sich um. Wie ungewohnt warm seine Stimme klang, als habe er es vergessen. »Ach Josef, darf ich etwas Obst in deine Haferflocken tun?«
    »Heute nicht.«
    »Aber wenn du nicht besser isst …« Der Löffel bewegte sich wieder

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