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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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Williamsburg immer sicher gefühlt hatte, wirkte in der Gruppe bedrohlich; eine Armee in Uniform, die einem Kommando folgte.
    Er dachte an Mila. Wie glückselig ihr Gesicht geleuchtet hatte, als sie das Kind an ihre Brust hielt. Er zog den ledernen Gebetsriemen noch straffer um den Arm, bis es ihm in den Fingerspitzen kribbelte. Vergib mir, Herr. Lass dieses Kind ein Jahr lang die Milch seiner Mutter trinken. An ihrem ersten Geburtstag werde ich zu den Rabbinern gehen.
    *
    Hannah blieb nicht die geplanten drei Wochen, denn das Verhalten des Paars ging ihr auf die Nerven. Sie fürchtete, ihre Anwesenheit könne das, was die beiden auseinandertrieb, während sie gleichzeitig aneinander klammerten, nur noch verschlimmern.
    Im April erhielten die Sterns ein Telegramm. Wir können dieses Pessach nicht nach Paris kommen. Hannah starrte auf das leere Kinderbettchen, die rosafarbene Decke, die sie gerade fertig gehäkelt hatte. Sie müssen kommen.
    Sie kamen nicht. Nicht zu diesem Pessach und auch nicht zum nächsten.
    *
    Als könne er den Status des Kindes durch seine Fürsorge ungeschehen machen, schaute Josef schon beim leisesten Geräusch nach dem Baby. Es war Josef, dem Rachels erstes Lächeln galt. Er stand an ihrer Wiege und rief: »Ruchele, Ruchele …«
    Die vier Wochen alte Rachel lächelte zurück.
    Es war Mila, die ihr erstes Lachen mitbekam. Die acht Wochen alte Rachel schaute auf ihre eigenen sich bewegenden Hände und gluckste dabei.
    Die Nächte zogen an ihnen vorbei. Mila und Josef verbrachten sie in getrennten Betten.
    Mila sang dem Kinde vor, und ihr Herz schlug dazu im Takt der Wiege, die zwischen den Betten stand. »Heia, li, lu, la …«
    Josef lauschte auf Rachels Atem, als sei er die Antwort auf seine Frage, ob Gott dieses Kind leben lassen wolle.
    So, wie sich Rachels Wangen füllten und rundeten, wurde Josef dünner. Mit jedem ihrer ersten gestotterten Worte wurde Josef stiller. Doch sein Schweigen war eine Sünde: Er deckte den Status des Kindes, er blieb bei seiner Frau, nur schliefen sie seit dem Abend ihrer Rückkehr aus Paris Nacht für Nacht in getrennten Betten.
    Rachels erster Geburtstag rückte näher. Josef hatte das Gefühl, er sei zu füllig. Die Rabbiner empfahlen zu fasten; je weniger man das Fleisch befriedigte, umso eher konnte man es beherrschen. Josef gewöhnte sich an, montags und donnerstags, den Tagen der Trauer um den zerstörten Tempel, zu fasten. Doch der Hunger verstärkte nur sein Verlangen. Wenn er nach Sonnenuntergang das Fasten brach, überfiel ihn ein Essensrausch. Das Seufzen von Milas Nachthemd, wenn es über ihre Schultern fiel, ihre Stimme, die das Kind in den Schlaf sang: »Heia, li, lu, la …« Josef zog den Schal fester um seine Taille.
    Jeden Abend hörte Mila den dumpfen Aufprall der Talmudfolianten auf dem Esszimmertisch; jeden Abend verlor Josef eine weitere Schlacht. Es gab keine Klausel, keine Ausnahme. »Das Volk Israel betrügt Dich und kehrt zurück«, hörte sie ihn eines Abends ausrufen, »aber meine Mila darf nicht zu mir zurück?«
    Mittlerweile krabbelte Rachel zur Haustür, sobald sie Josefs Schlüssel im Schloss kratzen hörte. Sie klammerte sich an sein Hosenbein, bis Josef sie auf den Arm nahm, wo sie glucksend nach der Krempe seines schwarzen Huts griff und ihn auf den Boden schleuderte. Josef hob den Hut auf und setzte ihn sich wieder auf den Kopf. Rachel packte ihn und warf ihn erneut auf den Boden. Josef drückte das kleine Mädchen mit der Schleife im Haar an seine Brust.
    Vergib mir, Herr, wenn sie zwei wird, werde ich mit dem Rebbe sprechen.
    Mit fünfzehn Monaten wurde Rachel abgestillt, doch Mila ließ die Wiege im Elternschlafzimmer stehen. Sie fürchtete, Josef könne wieder auf die Wohnzimmercouch ziehen, wenn das Kind nicht mehr zwischen ihren beiden Betten schlief.
    Milas Blutungen kehrten zurück. Sie nahm die genauen Untersuchungen und monatlichen Besuche in der Mikwe wieder auf. Auch wenn Josef sie nicht mehr anrührte, kam nicht in Frage, dass sie dem Badehaus fernblieb: Die Heiratschancen der kleinen Rachel würden gleich null sein, wenn jemand den Verdacht schöpfte, dass ihre Mutter die Gebote zur Familienreinheit nicht einhielt. Als junges Mädchen in Paris hatten diese Gebote Mila eingeschüchtert, jetzt waren sie Verheißungen, die auf die wunderbare Zeitspanne hindeuteten, in der sie nur Josef gehörte und Josef nur ihr. Jeden Monat, wenn sie aus dem kleinen Becken mit reinigendem Wasser stieg, bereitete Mila sich

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