Ich bin verboten
unwillkürlich auf Josef vor. Wenn sie vom Badehaus heimkam, legte sie sich die Stola um die Schultern. Sie stand vor dem dreiteiligen Spiegel und flüsterte ihren Namen mit Josefs Betonung: »Mila MilaHeller …« Sie hielt sich Josefs Kissen an die Nase und erinnerte sich an den Geruch von Heu und grobem Leinen, den Geruch des ehemaligen Bauernjungen. Doch jetzt roch Josefs Kissen nach den vergilbten Talmudseiten, in denen seine Finger blätterten, und hinter diesem Geruch verbarg sich der Duft seiner Sehnsucht nach ihr.
Sie zog sich die Stola von der Schulter, faltete sie zu einem ordentlichen Quadrat und legte sie in eine Schublade.
Am nächsten Tag zog Josef die Schublade auf. Seine Finger schlossen sich um die Stola. Er hielt sich den weichen Seidenstoff an die Nase. Barmherziger Herr, unterdrücke meine Gedanken, dass sie sich nicht zu ihr wenden; lass mich stolpern und stürzen, dass meine Hand sich nicht nach ihr streckt. Barmherziger Herr, bitte erhöre meine Gebete nicht …
Als Rachel zwei wurde, brachte Josef ihr das Alphabet bei.
» א , alef, eins, wie in: Unser Herr ist einzig.«
» ב , beth, wie in תישארכ ( bereschit ), Am Anfang …«
Josef führte die Finger der Kleinen über die geprägten Buchstaben auf dem Holzblock. »Warum beginnt unsere Thora mit dem zweiten Buchstaben des alef-beth und nicht mit dem ersten? Spürst du, wie die Form des Buchstaben ב sich dem, was vor ihm ist, verschließt? Spürst du, wie er sich dem öffnet, was noch kommt? Wir sollen nicht nach dem fragen, was vor dem Anfang war …«
Als sie drei wurde, kam Rachel in den Kindergarten. Jeden Tag tanzten ihre pummeligen Hände zu einem Kinderreim, dessen Wörter zwischen ihren Milchzähnen hervorsprudelten. »Juditel und Sarale und …«
»Sprich langsamer, wir haben den ganzen Nachmittag Zeit«, wies Mila sie an, doch Rachel umklammerte Josefs Beine, während immer mehr Wörter von ihren Lippen sprudelten. »Tatta nicht ganzen Nachmittag … und Haya hat Burg umgestoßen und Lehrerin gesagt …« Hatte Rachel das Gefühl, dass Josefs Aufmerksamkeit abnahm, rief sie: »Am Anfang! Schichte von Buchstaben!« Und dann saß sie mucksmäuschenstill, bis Josef begann:
»Die Geschichte von den Buchstaben. Einst waren alle Buchstaben verborgen. Gott sah die verborgenen Buchstaben und erfreute sich an ihnen. Als Gott dann die Schöpfung plante, trat jeder Buchstabe vor Ihn und sprach für sich. ›Wäre es nicht angemessen, die Schöpfung mit dem ersten Buchstaben des alef-beth beginnen zu lassen?‹, fragte Alef. Und Gott erwiderte: ›Dich, Alef, habe ich bereits auserwählt, am Anfang meiner zehn Gebote zu stehen.‹ Nachdem jeder einzelne Buchstabe zu Wort gekommen war, fasste Gott einen Beschluss: ›Ich werde die Schöpfung mit Beth beginnen, weil Beth, zwei, lehrt, dass es zwei Schöpfungen gibt: eine in dieser Welt und eine in der kommenden.‹«
»Schichte vom Licht, Tatta!« Rachel klatschte in die Hände.
Die Begeisterung des Kindes brach Josef das Herz.
Wenn sie vier ist, werde ich gehen. Ganz bestimmt werde ich dann gehen.
Wenn sie fünf ist.
Sechs.
Es wird leichter sein, wenn Hannah auf Besuch ist.
Es war nicht leichter, als Hannah sie besuchen kam.
Mit zwölf wird sie vor den Augen des Gesetzes erwachsen sein. Ich werde kurz vor ihrem zwölften Geburtstag gehen.
Genau in dem Moment, als Josef die Stufen zum Haus des Rebbe hochstieg, kam die zwölfjährige Rachel um die Ecke gerannt. Der Schulranzen hüpfte auf ihrem Rücken, in der Hand schwenkte sie das Zeugnis. »Sieh mal, Tatta, sieh!«
Er stieg die Treppe wieder hinab. Auch in diesem Schuljahr war Rachel Klassenbeste geworden. »Mama wird stolz sein«, sagte Josef.
»Und du, Tatta, bist du auch stolz?«
Josef streichelte ihr über den Kopf. »Natürlich bin ich stolz.« Er nahm dem Mädchen den Schulranzen vom Rücken. »Was für eine schwere Last für ein kleines Mädchen.«
Sie machten sich auf den Heimweg. Rachel hüpfte neben Josef her. Wieder und wieder fragte sie in ihrer hohen, singenden Stimme: »Und du, Tatta? Bist du auch stolz, Tatta?«
Erst wenn sie ins heiratsfähige Alter kommt, kann wieder eine Sünde geschehen. Dann werde ich gehen. Ich werde nicht zulassen, dass sich die Samen vermischen.
Die zwölfjährige Rachel wollte unbedingt genauso wie die anderen Mädchen in ihrem Alter sein, von denen man nie eine ohne Kinderwagen oder ein kleines Geschwisterchen an der Hand auf der Straße sah. Bei jeder Gelegenheit bot
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