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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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und rührte durch die Haut, die sich bereits über den Haferflocken gebildet hatte. Der Arzt hatte vor irreversiblen Schäden gewarnt; Mila hatte gebettelt und Josef daran erinnert, dass Nahrungsverweigerung Selbstmord sei und Selbstmord verboten. Allerdings hatte sie bislang weder Zalman noch den Rebbe hinzugezogen, denn die hätten bestimmt gefragt, welche Sünde ein solches Maß an Sühne erfordere.
    »Was ist mit deinen Augen? Helfen die Tropfen?«, fragte sie.
    »Ja, sie helfen.«
    Mila sah, dass die Schüssel mit Haferbrei noch immer unberührt auf dem Tisch stand. Sie lehnte sich gegen die Wand, an die verblasste Tapete. Hilflos musste sie zusehen, wie Josef immer weniger wurde, so hilflos, dass sie sich fast schon wünschte, es würde schneller gehen. Doch einen Straßenblock weiter wartete Trost auf sie. Dort lebte Rachel Milas Traum von einem Haus voller Kinder: die Jungen studierten die Thora, und die Mädchen bereiteten sich darauf vor, Mütter in Israel zu sein. Rachels Familie war der beste Beweis dafür, dass die Sünde – wenn es denn eine Sünde gegeben hatte – zum Zweck der Erlösung geschehen war: Erniedrigung zum Ziel der Erhöhung.
    Und da Rachel gerade wieder ein Kind erwartete, beschloss Mila, Josefs Zusammenbrüchen auch weiterhin standzuhalten.
    Mit zweiundsechzig war Josef so schwach, dass er nicht mehr gehen konnte, und Mila musste ihm aus dem Bett helfen. Als ihre Hand ihn zum ersten Mal berührte, hielten sie beide kurz die Luft an. Die wenigen Zentimeter Haut auf Haut weckten die Erinnerung an vergangene Körperfreuden und die vielen Entbehrungen, und sie fragten sich, ob das Gesetz in diesem Punkt vielleicht milder geworden war.
    Der Herr vergibt dem Sünder, flüsterte die Stimme, die Josef einst gehört hatte, als er neben Florina in der Kirche stand. Doch andere Stimmen schrien lauter: Der Herr ist persönlich beleidigt.
    Morgens schob Mila Josef im Rollstuhl zur nächstgelegenen Gebetsgruppe. Wenn es warm war, wartete sie draußen im Hof auf ihn, bei Kälte drinnen in der Garderobe. Nach dem Gottesdienst schob sie ihn wieder nach Hause und half ihm in einen Sessel, wo er dann mit einer Lupe über den Talmudfolianten saß.
    Nachmittags holte Mila Josefs alte Daunendecke, die ihm Florina einst mit Bindfaden zusammengebunden mit auf den Weg gegeben hatte. Mila hatte sie gewaschen und zusammen mit Lavendelsäckchen weggepackt, doch an einem Wintertag, an dem Josef besonders fror, hatte sie die alte Decke wieder hervorgeholt. Sie wickelte sie um seine knotigen Knie und die schmalen Fußgelenke und steckte ihm die ausgeblichenen Quasten in der Nähe des Herzens fest.
    So in die Daunendecke gewickelt, musste Josef an seine beiden Mütter denken, selbst wenn er sich nicht mehr an die Konturen ihrer Gesichter erinnern konnte. Er lächelte, und auch Mila lächelte, als sie auf Zehenspitzen aus dem Studierzimmer schlich und die Tür einen Spalt weit offen stehen ließ, damit sie sein Rufen gleich hörte.
    Abends schob sie ihn erneut zum Gebet und setzte ihn danach wieder in den Sessel am Bücherschrank, wo er bis zur Mitternachtsklage über den zerstörten Tempel ausharrte. Dann half sie ihm ins Bett. Wenn sein Atem gleichmäßig wurde, schloss auch sie die Augen.
    *
    »Rachels Älteste, Judith …«, flüsterte Mila eines Nachmittags, als sie Josefs Füße in die Decke wickelte.
    »Ist Judith etwas zugestoßen?«
    »Nein, nein, es ist nichts passiert. Sie ist … siebzehn.«
    »Judith wurde am 21. Kislew 5749 geboren … Stimmt, sie ist siebzehn.«
    »Das versuche ich dir gerade zu sagen. Judith ist …«
    Grauen überfiel ihn. »Mit wem?«, fragte er kaum hörbar.
    »Es ist eine gute Partie«, stammelte sie, »eine Ehre für unsere Familie.«
    Eine längere Stille trat ein. Mila überlegte, ob Josef es wirklich so genau wissen musste.
    »Wer?«, flüsterte Josef.
    Unwillkürlich mischte sich ein Hauch von Stolz in Milas Stimme. »Unsere Judith ist mit Yoel Stern verlobt, Schlomos Sohn, dem Enkel von Zalman.«
    Josef rang nach Luft.
    »Judith ist so glücklich«, beharrte Mila.
    Das Telefon klingelte. Mila verließ das Studierzimmer. Josef hörte, wie sie die Glückwünsche von Frau Halberstamm entgegennahm. Er schloss die Augen. Die Abstammungslinie der Halberstamms war bereits passul (beschädigt). Sollte es jetzt auch Zalman treffen? Würden Rachel und ihre Kinder die Abstammungslinie des frömmsten aller Chassiden beschädigen?
    Nein, Judiths Verlobung mit einem Stern-Enkel war kein

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