Ich bin verboten
Befehl: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast … und opfere ihn daselbst zum Brandopfer .
»Hineni?«, las Mila laut. In fieberhafter Hast wischte sie über den Tisch und brachte die Buchstaben durcheinander.
Die Holzblöcke schlugen gegeneinander, und Josefs schmaler Nacken bewegte sich hin und her.
Nachdem Mila das Zimmer verlassen hatte, tasteten Josefs Finger über den Tisch und setzten das Wort wieder zusammen:
יננה
*
Mila starrte auf die schwarz-weißen Fliesen des Küchenfußbodens. Die Vorhänge waren zugezogen, es war dunkel im Haus, still und leer. Keine spielenden Kinder – wie in ihren unfruchtbaren Jahren. Wegen der drückenden Hitze hatte Mila durchsetzen können, dass die schwangere Rachel mit den Kindern auf dem Land blieb. Nur Judith, die zur letzten Anprobe ihres Hochzeitskleids in der Stadt sein musste, würde die Hohen Heiligen Tage mit den Großeltern verbringen.
Mila holte ihr Buch der Tage hervor. Seit sie nach Rachels Geburt aus dem Krankenhaus gekommen war, bewahrte sie es in einem Versteck auf.
Die Einträge sahen aus, als kämen sie aus einem alten Buchhaltungsbuch:
םיניע ( Enaim ) → 740 → 11 → 2
זיאפ ( Paris ) → 298 → 19 → 10 → 1 + 1
38.5°
Blut 2, 3, 4, 5. Rein 2, 3, … 5, 7
Von allen Menschen liebte der HERR David am meisten.
Mila nahm einen Stift und begann zu schreiben:
Und das gilt auch für meine Rachel. Der Herr liebt sie bis ins zehnte Geschlecht.
Und das gilt auch für Rachels Tochter Judith. Sie ist rein und weiß, und der Herr liebt sie.
Mila malte eine Ranke um den Namen David. Sie nahm einen zweiten Stift und malte jede Blüte in der Ranke rot aus. Dann malte sie Ranken um die Namen Rachel und Judith und verband alle Ranken miteinander …
Als es an der Tür klingelte und sie draußen Judiths Stimme hörte, erschrak Mila so sehr, dass sie beim Aufstehen die Tischdecke mitriss. Die Milchtüte explodierte auf den Küchenfliesen, die Schüssel mit den ungegessenen Haferflocken zerschellte am Boden.
BUCH V
Oktober 2005
Manhattan
Ein Bote brachte das Notizbuch, das Mila vor vielen Jahren als junges Mädchen mit einem Etikett beklebt hatte: Milas Buch der Tage – Privat. Auf der Rückseite einer Apothekenquittung, die mit einer Briefklammer an den Buchdeckel geheftet war, standen ein paar hastig hingekritzelte Worte:
Liebste Atara,
ich hätte kommen sollen, doch jetzt ist es zu spät, um noch rechtzeitig vor Sonnenuntergang wieder zurück zu sein. Meine Enkelin Judith hat mein Notizbuch gelesen. Sie wird zu Dir kommen.
Erzähl ihr alles.
Mila
Atara hatte sich oft vorgestellt, dass es eines Tages an der Tür klopfen würde, und Mila, die große Liebe ihrer Kindheit, in ihr Leben zurückkehrte. Doch jetzt – zu spät, um noch rechtzeitig wieder zurück zu sein – wartete Atara auf das Klopfen von Milas Enkelin.
Die ersten Seiten von Milas Notizbuch lösten in Atara eine Flut von Erinnerungen aus. Erst dachte sie an die Zeit, als Mila ihre blutigen und reinen Tage zu zählen begann, dann wanderten ihre Gedanken weiter zu jenem frühen Morgen in Paris, als sie, ein Einkaufsnetz mit Zahnbürste und einer zweiten Garnitur Unterwäsche in der Hand, vor dem zweiflügeligen Hoftor stand, um bald darauf um die nächste Straßenecke zu biegen. Von dort ging es weiter auf die Avenue, hinein nach Paris, hinein in die große, weite Welt.
Als Atara den Arm ausstreckte, um die Lampe neben der Couch anzuknipsen, fiel eine Postkarte aus dem Notizbuch. Auf der linken Seite stand: Mila Lichtenstein und eine Adresse in Williamsburg. Rechts stand Atara Stern, doch die Adresse fehlte. Die Karte war 1958 datiert, das Jahr, in dem Atara gegangen war.
Erst zehn Jahre später hatte Atara, mitgerissen von der Euphorie des Frühjahrs 1968, Mila ihre Adresse und Telefonnummer geschickt. Seither hatte sie Mila nach jedem Umzug eine Postkarte geschickt: New York, Cambridge, Los Angeles, New York, San Francisco, New York. Es war nie eine Antwort gekommen, und Atara musste sich jedes Mal in Erinnerung rufen, dass sie es schließlich von Anfang an gewusst hatte: Wenn sie ging, würde sie ihre Familie verlieren. Sie hatte gewusst, dass Mila der abtrünnigen Schwester nicht die Tür öffnen konnte, ohne die Heiratschancen ihrer Kinder zu gefährden. Mila würde sich melden, wenn ihre Kinder erwachsen und verheiratet waren.
Die Zeit, in der die Kinder geheiratet haben mussten, war verstrichen.
Atara steckte Milas nicht abgeschickte Postkarte
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